”Film regt an”: Dr. Martina Lassacher im Interview

Die Co-Leiterin des Internationalen Kinderfilmfestivals über gute und kommerzielle Kinderfilme, Schulpädagogik und altersbedingte Wahrnehmungsdifferenzen.

Popular Theory /// (c) Blue Fox Entertainment

Wenige Tage vor dem Start des diesjährigen Internationalen Kinderfestivals, das ab 11. November in Wien läuft, haben wir Dr. Martina Lassacher von der Festivalleitung zum Interview getroffen.

Bohema: Was ist überhaupt ein Kinderfilm, wie grenzt man das vom Erwachsenen-Film ab?

Martina Lassacher: Kinderfilme sind Filme, bei denen erstens die Kinder die Hauptdarsteller sind. Das ist einigermaßen logisch, im kommerziellen Kinderfilm aber nicht immer so, da gibt es meist irgendwelche wichtigen Erwachsenen.

Dr. Martina Lassacher

Dann geht es um Themen, die Kinder interessieren. Das reicht von Spielzeugautos für die ganz Kleinen über Mobbing in der Klasse oder dass ein Elternteil stirbt. Freundschaft. Erste Liebe. Die Themen sind denen des Normalfilms im Grunde nicht so unähnlich, aber sie müssen für Kinder interessant sein. Wenn es um die Scheidung der Eltern geht, dann sollte es ganz stark das Kind betreffen. Was es für das Kind bedeutet, steht im Mittelpunkt – nicht die Streitereien der Eltern selbst. Das ist fürs Kind uninteressant.

Und das dritte und vielleicht wichtigste: Kinderfilme sollen aus der Perspektive des Kindes gemacht sein. Das bedeutet, dass die Weltsicht des Kindes ganz stark vorhanden sein muss. In den meisten Mainstream-Kinderfilmen schaut die Kamera auf die Kinder hinunter. Das ist die Perspektive der Erwachsenen. In dem, was ich als wirklichen Kinderfilm bezeichne, ist die Kamera auf Augenhöhe der Kinder. Da sind die Erwachsenen nicht komplett zu sehen, sind abgeschnitten. Und genauso muss auch die Geschichte aus Augenhöhe der jeweiligen Kinder erzählt sein.

Die Zielgruppen im wirklich guten Kinderfilm sind sehr eng, ein sechsjähriges Kind hat ein ganz anderes Bewusstsein als ein achtjähriges Kind. Da geht es auch um formale Dinge. Ein sechsjähriges Kind kann so etwas wie eine Parallelmontage noch nicht verstehen. Ein Achtjähriger schon. Beim sechsjährigen Kind muss alles relativ chronologisch vor sich gehen, bei noch Jüngeren muss es sehr bunt sein. Ein achtjähriges Kind kann lesen und schreiben, das kann sich schon über Konzepte wie Liebe oder Gewalt Gedanken machen. Für den Sechsjährigen sind Gut und Böse noch ganz plakativ eingeteilt. Der mit dem schwarzen Hut auf ist der Böse und der andere mit dem weißen ist der Gute.

Wenn das alles stimmt, dann ist ein Kinderfilm ein guter.

B: Der Unterschied zwischen den „guten“ Kinderfilmen, die bei Ihnen im Programm laufen und dem kommerziellen Film ist dann hauptsächlich die Perspektive?

ML: Das ist hauptsächlich die Perspektive. Darüber hinaus stört mich oft, was aber nicht Kinderfilm-spezifisch ist, wenn in einem Film so viele Effekte sind, die aber keinen Bezug zum Inhalt haben. Dinge wie Zeitlupe und Splitscreen und Voice-Over sind interessant, wenn es einen Bezug zum Inhalt gibt, wird aber manchmal schon sehr beliebig und exzessiv eingesetzt im Mainstream-Film. Grundsätzlich haben wir da nichts dagegen, aber das ist für uns wichtig. Form kann eine Form von Inhalt sein. Das ist auch im sogenannten Erwachsenenfilm so, dass der Film einfach nicht gut ist, wenn diese Effekte keinen Bezug zum Inhalt haben.

B: Was sind Tendenzen im aktuellen Kinderfilm?

ML: Das ist interessant, jedes Jahr gibt es dominierende Themen. Das wechselt und ändert sich und ist natürlich auch manchmal wiederkehrend.

Heuer ist es zum Beispiel so, dass die Beziehung zwischen Eltern bzw. Großeltern und Kind wahnsinnig im Vordergrund steht. Im Film Meeresleuchten bei uns im Programm ist das etwa die Beziehung eines Mädchens zu ihrem verstorbenen Vater. Da geht es den ganzen Film eigentlich nur darum, wie sie diese Trauer äußern und verdauen kann.

In der Literaturwissenschaft gibt es die sogenannten genetischen Beziehungen und die typologischen. Die genetischen sind solche, die sich vererben aus vorigen Autoren usw., wo man etwas kopiert, etwas wieder verändert. Und typologische Beziehungen ergeben sich aus dem, wie die Gesellschaft gerade drauf ist.

Und es ist im Film wahrscheinlich ganz gleich. In Zeiten, die sehr unsicher sind und wo es sehr viel Krieg gibt, wo es sehr viel Gewalt gibt, das sind natürlich Sachen, die die Leute verunsichern. Corona war etwas, das wahnsinnig viel Unsicherheit und Angst ausgelöst hat. Das spiegelt sich in den Filmen, auch im Kinderfilm.

Oonas und Babas Insel - Neue Freunde /// (c) WestEnd Films

B: Auf Produktionebene werden Realfilme für Kinder seltener, Animiertes dominiert.

ML: Das wird immer mehr so. Es hat angefangen damit, dass der ganze Ostblock zusammengebrochen ist, wo sie eine sehr große und gute Kinderfilm-Produktion hatten, weil sie ganz genau wussten, dass Film ein mächtiges Instrument ist, mit dem man schon sehr früh die Jugend bilden kann und sich sehr bemüht haben, da einiges auf die Beine zu stellen. Das ist dann immer weniger geworden. Dann haben die skandinavischen Länder diese ganzen Kinderfilmproduktionen übernommen, auch dort ist es inzwischen weniger geworden.

Wir haben vor 35 Jahren mit diesem Festival angefangen, weil es so gut wie keine österreichische Kinderfilm-Produktion gab. Und es ist immer noch sehr dünn. Es gibt nur alle drei, vier Jahre einen österreichischen Kinderfilm. Aus dem Ausland wird in Österreich nur gekauft, was die Deutschen auch kaufen, weil dort synchronisiert wird. Was ins Kino kommt, kommt aus Amerika, ab und zu aus Frankreich. Aber guter Kinderfilm ist was anderes. Das ist das, was wir zeigen. Und es hat immer noch Sinn, wir sind einzigartig.

Des weiteren gibt es natürlich kommerzielle Gründe: wie gesagt ist die Zielgruppe beim wirklich guten Kinderfilm sehr eng, der zieht nicht so viel Publikum wie ein Film, der auf eine Zielgruppe von 6 bis 60 ausgerichtet ist. Animationsfilm läuft kommerziell gut. Da versuchen viele Filmemacher, in den Erfolg mit einzusteigen. Das ist meine Vermutung.

Auf der anderen Seite gibt es sehr viel Formenreichtum, sehr viele Möglichkeiten der visuellen Gestaltung im Animationsfilm. Und das ist das Positive.

B: Wenn Sie zurückgehen in Ihre Kindheit: hat der Kinderfilm von damals noch etwas mit dem Heutigen zu tun?

ML: Das ist sechzig Jahre her. Ich glaube, dass es richtigen Kinderfilm damals nicht gegeben hat. Meine Familie hatte als eine der ersten einen Fernsehapparat, da war ich zwei und im Fernsehen lief Fury (ich habe immer Fluri gesagt, weil ich es noch nicht aussprechen konnte) und Lassie. Im Grunde waren das Western, man kann sagen Familien-Serien. Ab und zu gab es Langfilme. Bei meinem ersten Kinobesuch war ich vier, das war Dornröschen, Walt Disney. Ich hatte neue rote Schuhe an, die mir viel zu groß waren. An das Kino kann ich mich gut erinnern, an den Film kaum. Das Kinoerlebnis war wichtig.

Beim Festival machen wir vormittags viele Schulvorstellungen, da gibt es immer wieder Kinder, die waren noch nie Kino. Die haben zuhause Fernsehen, streamen Netflix oder Amazon Prime. Letztes Jahr habe ich einen Film eingesprochen und bin dann am Ausgang gestanden und da kommt ein Kind, gibt mir die Hand und sagt „Danke für den schönen Film.“ Und das ist wahnsinnig schön.

B: Sie sprechen Streaming an. Die Medienlandschaft ist heute eine gänzlich andere als in meiner, geschweige denn in Ihrer Kindheit, das Kino längst nicht mehr der einzige Ort, an dem Filme zu sehen sind. Was kann es den Kindern dennoch bieten, das sie zuhause nicht bekommen?

ML: In einem dunklen Saal zu sitzen, in einer Gemeinschaft zu sein und den Film von Anfang bis Ende durchzuschauen. Nicht einfach wegrennen können. Natürlich die große Leinwand, vor allem der Ton.

Und dann besteht natürlich ein grundlegender Unterschied zwischen einem Langfilm und den kurzen Videos, die sich die Kinder auf den Handys anschauen. Ein Langfilm kann zum Denken anregen, der kann Meinung bilden, der kann Kinder dazu bringen, dass sie ihrer Meinung vertrauen, dass sie ihren Gedanken vertrauen. Dass sie dann fähig werden, diese Gedanken zu äußern, dass sie so selbstbewusst sind, diese eigene Meinung zu vertreten. All das passiert im langen Film, wo die Geschichte einen Bogen hat. Nicht in zehn Minuten. Ich hab nichts gegen Kurzfilme, wenn sie Kurzfilme sind und nicht kurze Filme, nicht einfach ein Stück von einem längeren Film.

Ich bin überzeugt davon, dass Film wirklich ein mächtiges Instrument ist in der Erziehung von Kindern, ein mächtiges und auch ein sehr gefährliches. Damit kann man auch manipulieren. Darum ist es ganz, ganz wichtig, dass man Filme nicht nur anschaut mit den Kindern, sondern dass man danach darüber spricht, mit den Filmen arbeitet, wobei wir die Lehrer auch unterstützen.

Sweet As /// (c) Arenamedia

B: In meiner Schulzeit ging man ins Theater, las Bücher. Film war Unterhaltung in der letzten Stunde vor den Ferien aber nichts, womit man sich auseinandersetzt. Sehen sie sich da auch in einer interventionistischen Position?

ML: Ja. Wenn sich Schulklassen bei uns einen Film anschauen wollen, zahlen sie vier Euro pro Schüler, können dann aber einen Gratistermin in der Schule vereinbaren. Dann gehe ich oder eine Kollegin in die Klasse und wir sprechen über den Film. Aber wir fragen nicht „Warum hat der eine Freund den anderen gehauen?“, sondern „Warum ist da eine Zeitlupe?“ Da kommt man natürlich auf den Inhalt, aber bespricht eben auch, was Film kann. Der kann ja was. Ein Buch kann andere Sachen.

Für mich ist das total wichtig. Es passiert immer wieder, dass Lehrerinnen dann zu mir kommen und sagen „Ich sage Ihnen etwas. Der hat das ganze Jahr noch nie ein Wort gesagt und jetzt hat er eine halbe Stunde durchgeredet.“ Gerade Migrantenkinder, die oft anscheinend so wenig Möglichkeit haben, sich zu äußern oder die sich schwertun im Unterricht, sind ganz groß dabei, wenn es um Film geht. Es ist wirklich schön zu sehen, wenn auch schüchterne Kinder plötzlich ganz viel sagen. Film regt an.

B: Nehmen Kinder Filme grundsätzlich anders wahr als Erwachsene?

ML: Meine Kollegin Anna Hofmann und ich haben zehn, zwölf Jahre auf der Kinderuni Filmwissenschaft gemacht. Und es ist wirklich erstaunlich, was Siebenjährige alles sehen. Das ist wahnsinnig.

Ich werde nie vergessen, wie ich einmal mit meinem Sohn im Puppentheater war. Und da hat man unten am Boden Mäuse gesehen und die Beine der sich unterhaltenden Leute im Käseladen. Als wir nach Hause kamen hat mein Sohn gesagt: „Papa, Papa, da waren Beine und die haben ohne Kopf gesprochen.“

Die sehen noch die Beine, die ohne Kopf sprechen. Gleichzeitig hab ich Zwanzigjährige auf der Uni unterrichtet. Die abstrahieren mehr und sehen weniger, was da wirklich im Bild ist. Ich arbeite gern mit Erwachsenen, aber mit Kindern ist es eine Freude.


 Das 35. Internationale Kinderfilmfestival findet vom 11.-19. November in Wien statt.

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