Queer Existence is Resistance

Cláudia Varejão lässt uns mit ihrem Spielfilm Debüt Lobo e Cao (Wolf and Dog) in die Schönheit der Ambivalenzen regelrecht eintauchen. Zwischen Tradition und Queerness, Mut und Angst, Traum und Realität.

© Giornate degli Autori – Venice Days

Jung, queer und mitten im Atlantischen Ozean

Die besten Freund*innen Ana und Luis leben auf der portugiesischen Insel São Miguel, die das Set für dieses magische Coming-of-Age Drama ist. Umgeben vom tiefblauen Meer, satten, grünen Hügeln und tiefsten Katholizismus lernen wir die unterschiedlichen Charaktere kennen. Als Cloé, eine Freundin von Ana, auf der Insel ankommt, verändert sich so einiges. Wie Luis beginnt sich nun auch Ana sich den Vorstellungen der großteils konservativen Gemeinschaft zu widersetzen. Trotz des Gegenwinds stärken sich die Figuren gegenseitig und lassen sich nicht davon abhalten, sich selbst zu finden.

 Während Ana sich auf eine Reise ihres Begehrens begibt, die ihr eine Zukunft weit weg von der Insel vorhersagt, begibt sich ihr bester Freund Luis auf eine Reise in ihre profundesten Traditionen. Er lebt kompromisslos seine queere Identität in dieser zutiefst katholischen Gemeinschaft aus und lässt sich auch von seinem queerfeindlichen Vater nicht kleinmachen. Anas Sehnsucht, die Insel zu verlassen und ihr starkes Verlangen nach mehr scheint für ihre Familie ein großes Problem zu sein. Sie kämpft mit sich selbst als auch dem Unverständnis ihrer Mutter. Die immer wiederkehrende Erzählung Ana wolle zu viel, zu stark und zu sehr, führt sogar dazu, dass sie den Dorfpfarrer fragt, ob wollen an sich eine Sünde sei.

© Viennale

Mutig, wie der Wolf

Mit einer stark poetischen Ton- und Bildsprache verschwimmen in Lobo e Cao die Grenzen von Realität und Fiktion. Die Regisseurin mit Dokumentarfilm-Hintergrund Varejão schafft es, durch radikale Nähe, alltägliche Verhaltensweisen genauestens unter die Lupe zu nehmen. Ihre Entscheidung, mit Laien-Darsteller*innen zu arbeiten, die großteils selbst von der Insel sind, verstärkt diese Ästhetik. Die Kamera ist dicht am Geschehen dran, observiert die Charaktere, ihre Gestik und Mimik, ihre Blicke. Einige Figuren sind dabei ganz starr und ausdruckslos wie Marionetten, Andere nehmen eine dynamische Rolle ein; sie tanzen, sehen sich gegenseitig lustvoll an und blicken voller Mut in die Welt. Die Zusammenhänge zwischen Mut vs. Angst und Queerness vs. Normativität sind dabei nicht zu verkennen. Wer ist noch Hund und wer schon Wolf?

Gemeinsam sind wir Liebe

Besonders bemerkenswert an Lobo e Cao ist, dass LGBTQ+-Realitäten abseits von großen Städten abgebildet werden. Luis und Ana sind in einer Gruppe Menschen unterschiedlichen Alters mit verschiedenen Identitäten, Sexualitäten, Eigenschaften und Wünschen. Gemeinsam verbringen sie ihre Zeit in einem LGBTQ+ Club der Insel. Der Film zeigt uns mit einer Selbstverständlichkeit, dass egal wohin mensch in der Welt blickt, es queeres Leben gibt. Auch wenn Portugals Gesetzgebung im weltweiten Vergleich progressiv in Bezug auf die Rechte von LGBTQ+ Menschen ist, ist das soziale Klima nicht am selben Stand. Und so erleben auch die Queers im Film Repressionen, Gewalt und Bosheit von den restlichen Bewohner*innen. Davon lassen sie sich jedoch keinesfalls unterkriegen. Innerhalb der Community stärken sich die Figuren gegenseitig, kümmern sich um einander und verwandeln den Hass von außen in Liebe zueinander.

Eine der stärksten Szenen verkörpert diese Solidarität und den zarten Widerstand gegen Unterdrückung: Nachdem Luis einer Konversionszeremonie seines Vaters ausgesetzt wird, sieht mensch ihn im Club. Er steigt mit perfektem Make-up und einem futuristischen Outfit auf die Bühne und blickt intensiv in die Kamera. Der queere Cast stellt sich eine*r nach dem*der anderen hinter und um ihn herum auf. Alle blicken in die Kamera. Die Kamera, die den ganzen Film so neutral beobachtend schien, wird auf einmal wahrgenommen. Es wird zurückgeblickt auf die Zusehenden, die sich bis dato unbeobachtet bei der Observation der Geschichte und der Figuren fühlten. Ihre Blicke durchringen mich, geben mir Kraft und fordern mich heraus. Das ganze Kino hält für einige Sekunden den Atem an.

© Giornate degli Autori – Venice Days

Mehr als ein Film

Und obwohl der Film einen großen und diversen queeren Cast hat, ist es schon enttäuschend, dass die Protagonist*innen Ana und Luis cis* sind und die trans* Figuren lediglich Nebenrollen einnehmen. Es bleibt für mich offen, weshalb Varejão diese Entscheidung getroffen hat, denn sie selbst betont in Interviews, dass sie von einer Gruppe junger trans* Frauen der Insel für den Film inspiriert wurde. Aus diesen Geschichten der jungen Frauen lernte Varejão und die Filmcrew auch, dass es dort keine offizielle Infrastruktur für die Community gab. Deshalb haben sie im Zuge der Dreharbeiten auf São Miguel ein LGBTQ+ Zentrum ins Leben gerufen. Ein Film, dessen politischer Anspruch über die Grenzen Leinwand hinaus geht. Lobo e Cao ist mehr als nur ein Coming-of-Age Drama. Es ist ein Film über Tradition, Resilienz, Sehnsucht, Liebe und über vereinbare Unvereinbarkeiten.

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