Frühlings-Erwachsen-werden

„Die Jugend wäre eine schönere Zeit, wenn sie erst später im Leben käme“ - Zwischen Frühlingsgefühlen und Verzweiflung beweist Wedekinds Tragödie die gleiche Aktualität wie vor über 100 Jahren.

(c) Sophie Menegaldo /// Theater der Jugend

Frühlings Erwachen von Frank Wedekind wurde bei seiner Uraufführung 1906 heftig kritisiert: Die sogenannte „Kindertragödie“ behandelte Themen, über die man nicht sprach und somit wurde auch verboten, diese auf einer Bühne zu behandeln. Regisseur Thomas Birkmeir steht zu den Tabus in seiner Inszenierung am Theater der Jugend und lässt die Kinder und Jugendlichen aus Wedekinds Drama offen über Selbstbefriedigung, Schwangerschaftsabbruch und Suizidgedanken reden.

Die Jugend von heute

Ergänzt werden die bekannten Themen im neuen Frühlings Erwachen durch Diskriminierung durch Rassismus und die Frage nach Geschlechtsidentität. Dafür stellt Birkmeir zwei Charaktere auf die Bühne, die so im Original nicht vorkommen: Daria ist Muslimin und Kopftuchträgerin, die für ihr „Anders-Sein“ nicht akzeptiert wird. Sie erzählt, wie sie auf offener Straße angespuckt wird und sich über nichts beklagen darf, weil sie sonst einfach wieder zurückgehen solle, wo sie hergekommen ist. Und Otto stellt sich später im Stück als Ilse vor. Sie hinterfragt die Wichtigkeit der Geschlechterbezeichnungen und Kategorisierung von „Mann“ und „Frau“.

Die Hauptfiguren Wendla, Moritz und Melchior sind auch auf der Suche nach Antworten. Antworten, die sie von ihren Eltern nicht bekommen. „Die Jugend wäre eine schönere Zeit, wenn sie erst später im Leben käme.“ So spricht Moritz, der sich von seinen Eltern nicht geliebt fühlt, sich selbst als Produkt bezeichnet und unerwidert in Wendla verliebt ist. Nach einem Streit mit seinem besten Freund Melchior entscheidet er sich live von einer Kamera begleitet umzubringen. Wendla möchte von ihrer Mutter verstanden werden, die Mutter möchte sie auf ihre eigene Weise behüten. Da sie auf ungewollter Weise schwanger wurde, möchte sie ihre Tochter vor diesem Schicksal beschützen. Doch Wendla möchte selbst entscheiden, wie sie mit ihrem Körper umgeht.

 Instabil und ungerade

Die DarstellerInnen spielen von Anfang bis Ende auf einem schiefen Bühnenboden. Die Instabilität und das Gefühl, dass sie in jedem Moment wie auf einer Rutsche das Gleichgewicht verlieren könnten, zieht sich durch die Aufführung. Die Unsicherheit der Kinder, das Fehlen von Gesprächen auf Augenhöhe mit den Eltern, aber auch Tod und Leben zeichnen sich im simplen, aber sehr passenden Bühnenbild ab.

Die bestehende Relevanz von Wedekinds Frühlings Erwachen in der heutigen Zeit ist offensichtlich: Besonders durch die Corona Pandemie wurden menschliche Beziehung auf die Probe gestellt und die unzähligen Fragen der Heranwachsenden blieben offen. Das von Wedekind kritisierte Schulsystem und der Leistungsdruck weisen heute immer mehr unglückliche Kinder und Jugendliche auf.

Sexuelle Aufklärung, zwar besser als in der Zeit des Originalstückes, bleibt weiterhin fokussiert auf die Biologie und lässt jedoch die emotionalen Aspekte, die für Jugendliche in der Pubertät von Nöten wäre, außen vor.

Die jungen Teenager werden hier von Erwachsenen verkörpert - ein Phänomen, das bei Filmen und Serien oft die Illusion zerstört. Hier aber schaffen es die Schauspieler*innen ihre Kindlichkeit ohne Übertreibung darzustellen.

„Die Poesie des Pessimismus ist die Lebensfreude“

Die Aufführung im Theater der Jugend zeigt alle Aspekte des Erwachsenwerdens und der Pubertät. Dabei wird das nun doch über 100 Jahre alte Stück ergänzt mit dem Zeitgenössischen: besonders im Einfluss von Social Media und dem Internet. Der Rahmen ändert sich aber nicht: Die Fragen, die Ängste, die Unsicherheiten und Problem der Kinder und Jugendliche bleiben gleich. Ein Abend zum Nachdenken und Miterleben des süßlich-schmerzhaften Coming-of-Age für alle ab 13.

Frühlings Erwachen ist bis zum 26. April im Theater der Jugend zu sehen.

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