Quo vadis, Aida?

Warum war das möglich? - Packende cineastische Geschichtsstunde über den oft vergessenen europäischen Genozid, der nur wenige Autostunden von uns in den 90-ern stattfand.

Foto: Quo Vadis, Aida? / Coop99 Filmproduktion

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Im Juli wird es 26 Jahre her sein, dass in Srebrenica, einer kleinen Stadt in Bosnien, der größte Massenmord Europas seit dem II. Weltkrieg begannen wurde. Diese abscheuliche „ethnische Säuberung“ wurde von der Armee der Republik Srpska und deren Hauptmann General Ratko Mladić durchgeführt. Die Stadt wurde von UN-Friedenstruppen geschützt, die Bevölkerung hätte nichts zu befürchten haben sollen. Die Blauhelme waren jedoch schlecht ausgestattet und bekamen nicht die erforderte Unterstützung aus der Luft. Am 11. Juli 1995 marschierten die Truppen Ratko Mladićs in die Stadt ein und töteten 8373 Menschen, hauptsächlich muslimische Männer von jung bis alt. Bis heute werden noch Knochen und ganze Massengräber gefunden. 

Mit Filmen Geschichte lernen

In meinem Wiener Freundeskreis höre ich manchmal den leider so falschen Satz: „Wir hatten nie so lange Frieden in Europa“. Vergessen werden dabei (unter anderem) der Krieg in Bosnien und der Genozid in Srebrenica, obwohl sie nur wenige Autostunden von Wien passiert sind. Dass dieses Massaker uns so nah, auf unserem Kontinent passierte, macht es natürlich nicht schlimmer als all die Gräueltaten, die seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs überall auf der Erde begangen wurden. Doch geografische und anthropologische Nähe können es leichter machen, Verständnis und Mitgefühl zu haben. So funktionieren wir nun einmal.

Foto: Quo Vadis, Aida? / Coop99 Filmproduktion

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Filme können dieses Hilfsmittel der geografischen Nähe ersetzen, uns längst Vergangenes näherbringen. André Bazin hat in seiner berühmten Schrift über Film Qu'est-ce que le cinema“ (Was ist Film?) bemerkt, Film wie auch Fotografie könnten die Zeit festhalten. Das ist genau das, was die bosnische Regisseurin Jasmila Žbanić mit ihrem Film Quo Vadis, Aida? tat: Sie hielt einen Teil der bosnischen (und somit auch der europäischen) Geschichte fest. Damit verlieh sie dieser Tragödie mehr Sichtbarkeit; vielleicht wird sie jetzt mehr Raum im europäischen Gedächtnis bekommen.

Gegen das Vergessen und für die Versöhnung

Inspiriert von der autobiografischen Geschichte des Autors Hasan Nuhanović hat Jasmila Žbanić das Szenario für Quo vadis, Aida? geschrieben. Nuhanović, der seine Familie verloren hat, war als junger Mann Augenzeuge der Ereignisse und Dolmetscher in Srebrenica und Potočari. Nominiert für den Oscar in der Kategorie Bester internationaler Film balanciert der Film zwischen zwei Sphären: dem breiten Publikum und der post-jugoslawischen Bevölkerung. Für Erstere dient er als Aufklärung, für Letztere ist er ein Denkmal der schrecklichen Ereignisse. Im Jahr 2001 hat schon der bosnische Regisseur Danis Tanović für den Kriegsfilm Ničija Zemlja (No Man's Land) den Oscar für den besten fremdsprachigen Film gewonnen.

Der Film erzählt die historischen Ereignisse, die zum Massenmord führten, kommt dabei aber fast ohne Blutvergießen auf der Leinwand aus. Diese Entscheidung, sich auf die Gefühle zu konzentrieren, ist eine der Stärken dieses Films. Eine weitere gelungene Entscheidung war, die Hauptrolle einer Frau zu geben. Durch die Perspektive der Frau nimmt der ganze Film eine andere Dimension, wie Žbanić selbst in einem Interview zugab. Aida führt uns, wir identifizieren uns mit ihr, was immersiv wirkt. Aida ist Mutter, Frau und Dolmetscherin. Ihr ist schon von Anfang an bewusst, dass sie nicht alle retten kann. Aber sie kämpft verzweifelt und unermüdlich. In Quo vadis, Aida? begegnen uns eine Reihe historischer Charaktere; Zum Beispiel Oberstleutnant Thomas Karemanns, Major Robert Franken und der berüchtigte General Ratko Mladić. 

Der Schlüssel: Mitgefühl

Basierend auf historischen Fakten, Transkripten und Videos, wird im Film die Geschichte der fiktiven Aida Selmanagić verfolgt, sehr beeindruckend und hingebungsvoll gespielt von der serbischen Schauspielerin Jasna Đuričić. Als Übersetzerin für die UN ist Aida mit einer gewisser Macht ausgestattet, kann das aber nicht zu ihrem Vorteil nutzen, während sie versucht, ihren Mann und ihre zwei Söhne zu retten. Das Scheitern ist ein wichtiges Motiv des Films, Aida stellt immer wieder die gleiche Frage: Wieso ist das nicht möglich? Die Frage ist leider sowohl für den Film als auch für den geschichtlichen Kontext bezeichnend. Das Schlüsselwort hier ist das fehlende Mitgefühl. Sowohl für Aida im Film wie auch für die Menschen aus Srebrenica in der Realität. Trotz geografischer Nähe (oder Ferne) sollten wir füreinander Mitgefühl empfinden und dementsprechend handeln.

Foto: Quo Vadis, Aida? / Coop99 Filmproduktion

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Da fast der ganze Film im Hangar in Potočari spielt, wo die Schutztruppen Duchtbat III stationiert waren, wird das Gefühl der Ausweglosigkeit an die Zuschauer:innen übertragen. Dort haben sich die Flüchtlinge, Männer und Frauen aus Srebrenica versteckt mit dem Gedanken, sie seien dort beschützt vor der Armee der Republika Srpska, die schon in die Stadt eingedrungen war. Wir verfolgen Aida, wie sie sich durch die Gänge der Akkufabrik und durch ausgehungerte, ängstliche Menschenmengen bewegt. Zugleich navigiert sie zwischen der Bevölkerung und der Duchtbatt III, bzw. Oberstleutnant Thomas Karremans. Wir spüren Klaustrophobie, Panik, Angst, Hilfslosigkeit.

Das Böse hat einen Namen

Die zweite wichtige Rolle, die des gewalttätigen Generals Ratko Mladić, wird von dem serbischen Schauspieler Boris Isaković gespielt. Sein Auftritt ist so stark, man meint die Geschichte erneut durchleben zu müssen. In einem Interview meinte Isaković, die Statisten:innen am Set hätten ihn in der Szene, in der er Schokolade verteilt und so tut, als sei er der Erlöser, mit „General“ angesprochen. Das gibt sehr viel zu bedenken und zeigt das Trauma, das in den Menschen noch immer weiterlebt. Was er ausspricht im Film, wie er sich verhält, kann man sich genauso in Originalvideos auf YouTube anschauen. Zum Beispiel die gruselige Szene, in der er vor den Frauen und Alten, die vor dem Transport schon im Bus sitzen eine kurze Rede hält und sein Wort gibt, dass es allen gut gehen würde. 

Foto: Quo Vadis, Aida? / Coop99 Filmproduktion

Foto: Quo Vadis, Aida? / Coop99 Filmproduktion

Die nostalgische Erinnerungsszene Aidas an die vergangene, angstfreie Zeit zeigt die Menschen auf einer Preisverleihung für die beste Frisur Ost-Bosniens. Es wird Kolo getanzt, Hand in Hand, die Kamera zeigt uns Nahaufnahmen von Gesichtern, die wir schon aus dem Hangar kennen. Wir wissen: Die meisten von ihnen werden sterben. Die Atmosphäre ist fröhlich, man hört Musik, die Leute tanzen und schauen direkt in die Kamera und somit uns Zuschauer*innen direkt in die Augen. Wir bekommen jedes Gesicht deutlich zu sehen. Später ist es nur eine unpersönliche Masse von Menschen, die wir erblicken, immer eng zusammengerückt. Sie hatten alle ihre Gesichter, ihre Familien und ihre persönlichen Tragödien.

„Der Schlüssel der Geschichte liegt nicht in der Geschichte, sondern in den Menschen“ (c) Théodore Simon Jouffroy

Die letzten Minuten des Films zeigen Aida, die nach Srebrenica zurückgekommen ist. Sie hat ihren Lehrerjob wieder, die Kinder haben einen Auftritt. Im Publikum sitzen Eltern, unter ihnen auch der opportune Sadist Joka (Emir Hadžihafizbegović), sowie weitere Kriegsverbrecher, die nicht verurteilt wurden, sondern die Uniform einfach für Zivilkleidung eingetauscht haben. Die Kinder auf der Bühne verdecken sich immer wieder die Augen mit den Händen; die ganze Szene wirkt ambivalent und oszilliert zwischen Trauer, Hoffnung und Ungewissheit. Quo vadis, Aida? ist ein Film über die Vergangenheit und über die Gegenwart mit einem ungewissen Blick in die vernebelte Zukunft.

Žbanić gibt keine Schuld, das war nicht das Ziel des Films, er zeigt Tatschen. Man kann und darf nicht leugnen was passiert ist. Die traurige Realität ist allerdings, dass genau das der Fall ist: Die offensichtlichen Täter ausgenommen geht die Verantwortung an diejenigen, die Schutz gewähren sollten, sowie an die, die aus der Sicherheit heraus die Ereignisse verfolgt haben und nicht rechtzeitig interveniert haben. Der Film ist ein wichtiges Bild der Zeit, dieser Zeit, die für Bosnien und für die Nachbarländer so prägend war und bis heute Spuren hinterlässt. Denn in Bosnien, einem bis heute geteilten Land, stehen die Fragen nach Ethnizität und Religion noch immer in Vordergrund. 

Der Genozid spricht für sich

Der Film nimmt kein Opfernarrativ ein, da spricht der Genozid für sich. Vielmehr erzählt er eine Geschichte, von deren Sorte es leider zu viele gibt, und versucht durch seine künstlerische Darstellung eine klare Lehre zu erteilen. Quo vadis, Aida? stellt sich dem inter­na­tio­nalen Desin­ter­esse an der südslawischen Zwick­mühle und der erinnerungspolitischen Sackgasse im Land entgegen und übernimmt künstlerisch-politische Verantwortung.                                                                                                                                                                   

Um einen Waffenstillstand zu bezwecken wurde 1995 der Dayton Friedensabkommen unterschrieben. Er führte dazu, dass Bosnien und Herzegowina den Frieden, eine Verfassung bekamen. Es entstand ein dreigeteiltes Land bestehend aus der Föderation Bosnien und Herzegowina, der Republika Srpska und dem Brčko Distrikt. Das Dayton Friedensabkommen ist bis heute sehr umstritten. Es hat zwar zur Niederlegung der Waffen geführt (was im Moment das Wichtigste war) aber es hat auch neue Probleme mit sich gebracht und ist einer der Gründe, warum Bosnien heute nicht vorankommt. 

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