Komm, bleiben wir lieber auf Distanz
Nein, es geht endlich mal nicht um Aerosole oder leergelassene Sitze im Theater sondern um Brechts Verfremdungseffekt und was er mit Kant und Populismus zu tun hat.
Brecht und sein Verfremdungseffekt sind keine leichte Kost. Um ehrlich zu sein; konnte ich mit Brecht während der Schulzeit nichts anfangen, oder zumindest nicht mit den Brecht-Stücken, die Lehrer*innen im Deutschunterricht gerne sezieren: die Dreigroschenoper und Mutter Courage. Der Verfremdungseffekt wurde dabei kurz in den Raum gestellt, aber nie wirklich tiefergehend ausgeleuchtet. Mein Interesse an Brecht wurde erst wieder geweckt, als ich die Produktion Im Dickicht der Städte in der Regie von Christopher Rüping in den Münchner Kammerspielen sah, Anfang 2020, als das noch ging.
Voll von Chaos, scheinbar grundlosen Konflikten und die heiß-kalte Beziehung der beiden Protagonisten zueinander, überhaupt mit allen anderen Figuren auch. Ein bisschen verloren, ein bisschen wirr, ein bisschen pubertär. Den ominösen Verfremdungseffekt habe ich aber erst durch die Bachelorarbeit verstanden, die ich darüber geschrieben habe. Daher hier eine Verteidigung der brechtschen Verfremdung gegenüber meinem jüngeren Selbst. Du und ich wollen beide immer noch das gleiche von Theater, Hase, also lass mich ausreden, ja?
V-Effekt statt Wow-Effekt
Der Verfremdungseffekt bezieht sich auf alles, was auf einer Bühne so passieren kann: Musik, Schauspielende, Bühnenbild, Dramaturgie, Ausstattung und andere Mittel. Der Grundgedanke ist dabei, die Zuschauer*innen zum Nachdenken zu bringen. Anders als etwa Stanislawski wollte Brecht sein Publikum nicht mit Empathie einfangen und es bis zum Ende des Stücks atemlos an die Sitze fesseln. Er wollte Distanz herstellen zwischen dem Geschehen auf der Bühne und den Zuschauer*innen. Diese Distanz sollte genug Raum geben, um selbstständig über das Stück nachzudenken, bestimmte gesellschaftspolitische Anspielungen zu verstehen und sie auf die Realität außerhalb des Stücks zu übertragen.
Das Stück Mann ist Mann, entstanden zwischen 1924 und 1926, wird als wichtiger Baustein auf dem Weg zur endgültigen Theorie des Verfremdungseffekts gesehen. Darin wird der Packer Galy Gay Stück für Stück von einer Gruppe Soldaten manipuliert, bis er aufhört, ein Individuum zu sein und sich als Teil einer Maschinengewehreinheit begreift, deren Einheit mehr zählt als jeder der vier Soldaten, aus denen sie besteht. In dem Stück ist immer wieder die Rede davon, dass Galy Gay wie eine Maschine ummontiert wird. Die Verfremdung sollte den Zuschauenden helfen, Politik und gesellschaftliches Geschehen als etwas zu sehen, das nicht von dunklen Mächten gesteuert wird, sondern von Menschen. Dass also auch sie, die Zuschauenden, in dieses Geschehen eingreifen könnten, etwas verändern könnten.
Emotional statt Social Distancing
Letzten Endes sollte diese Art von Theater zur gesellschaftlichen und politischen Revolution führen. Brecht sollte nicht vorbehaltlos zum Idol verklärt werden, als Mensch hatte er seine Fehler. Sei es in seiner Eigenschaft als Frauenheld oder die Tatsache, dass er politisch bis zuletzt zwischen den Stühlen saß. Der Verfremdungseffekt aber ist bis heute ein wichtiges Instrument, um kritisches Theater zu etablieren. Verfremdung der historischen Umstände, ein klarer Schnitt zwischen Szenen durch Licht in verschiedenen Farben oder Monologe, die sich direkt an das Publikum richten, können die versprochene emotionale Distanz schaffen, die für kritisches Denken notwendig ist.
In Zeiten von erstarkendem Populismus ist diese Distanz nicht nur wertvoll, sondern absolute Pflicht, wenn Theater eine gesellschaftliche Notwendigkeit bleiben will. Dazu braucht es nicht mehr Inszenierungen von Brecht-Stücken, denn diese Stücke waren Kinder ihrer Zeit und können heute, in einem anderen Kontext, nur noch bedingt ohne vorherige Recherche verstanden werden. Nein, dazu braucht es die Verhandlung von den Themen, die heute wichtig sind, betrachtet durch die Brille der Verfremdung und Distanzierung von Emotionen.
Brechts Fehler war, zu viel ästhetische Bildung vorauszusetzen
Debatten müssen mit Empathie geführt werden, aber argumentiert werden sollte mit Fakten und nicht mit diffusen Angstgefühlen. Gutes Theater sollte helfen, um Kant ein wenig abgewandelt wiederzugeben, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen. Brechts Fehler war, zu viel ästhetische Bildung vorauszusetzen. Statt das „ungebildete“ Publikum auszuschimpfen und es anzuhalten, diesen Fehler selbst möglichst schnell zu berichtigen, wäre es sinnvoller, Theater weniger elitär zu gestalten und so den Versuch wagen, dem brechtschen Fehler entgegenzukommen.