Und Bernstein sah, dass es gut war

Eine Uraufführung mit anwesendem Komponisten, Einzelabend für einen jungen Pianisten, der ein ganz Großer zu werden scheint und ein Stell-dich-ein der Wiener Sing-Elite mit monumentalem Orchester.

Detail of Sistine Madonna, Raphael /// Wikimedia Commons (c)

Detail of Sistine Madonna, Raphael /// Wikimedia Commons (c)

Wie soll man über ein Konzert schreiben, das so viele in einem war? Dieser Freitagabend im Wiener Konzerthaus klingt nach – ihn zu verarbeiten benötigt wohl die Selbsttherapie dieses geschriebenen Textes. Die Stars dieses Freitagabends also, der 8. Oktober, waren, um ehrlich zu sein, weder die Mitglieder des ORF Radio-Symphonieorchesters noch Dirigentin Marin Alsop. Sie blieb weitgehend im Hintergrund – jedoch gelang es ihr fabelhaft, das Orchester selbst in verwirrendsten polyrhythmischen Partien zusammenzuhalten. Die wahren Stars aber die aufgeführten Werke, allesamt aus dem 20. Und 21. Jahrhundert.

Ein Bernstein-Stil, der auch den Wiener*innen schmeckt

Dieser denkwürdige Freitagabend sollte zuerst einmal die groß angekündigte Uraufführung des Preisträgerwerks And Now The News in Different Languages aus der Feder des Österreichers Christoph Cech werden. Er gewann damit 2021 einen Kompositionswettbewerb, der zu Ehren Leonard Bernsteins ausgeschrieben worden war. Anspielungen auf Bernstein scheinen tatsächlich in allen Schichten des 15-minütigen Werks durch: Bläsersoli werden von einsetzenden Streichern eingebettet, Zupfbass und Bläser mit Trichter erinnern an Jazz, dann wieder Teile, die Musical-Schwung verbreiten (Alsop tanzt dazu auf dem Dirigentinnenpult). Christoph Cech badet im wohlwollenden Applaus des Publikums. Das Stück spielt in solch hohem Maße auf die Werke Bernsteins an, dass es sogar dem Wiener Publikum konveniert.

Víkingur Ólafsson, der feinfühlige Isländer /// Ari Magg (c)

Víkingur Ólafsson, der feinfühlige Isländer /// Ari Magg (c)

Restlos begeistert ist das Publikum dann aber von Víkingur Ólafsson, dem sehr knuffigen Klavier-Shotingstar aus Island. Er setzt sich so nonchalant an den monumentalen Steinway, wie andere an den Esstisch. Bei der 2008 entstandenen Auftragskomposition In seven days von Opernkomponist Thomas Adès spielt er erst eine untergeordnete Rolle und kann wenig glänzen – aber man wird nicht glauben, was danach kommen wird.

Das Publikum schmilzt dahin für den lässigen Ólafsson

In In seven days hackt Ólafsson noch wie ein Ohrwerk auf das Klavier ein, die polyrhythmischen Phasen verschieben sich, doch Ólafsson und Dirigentin Alsop manövrieren sich erfolgreich durch die kleine symphonische Dichtung, die von so vielen Fragmenten, gegeneinander arbeitenden Rhythmen und einem dauerhaft drohenden Unterton geprägt ist. Doch dann: Ein sehr offenes Ende, der junge Isländer verbeugt sich mit den Händen in den Hosentaschen wie nach einem Schulkonzert (das Publikum schmilzt dahin) und kündigt eine Zugabe auf Deutsch an. Und was für eine! So süß, so träumerisch und dennoch so transparent wird noch nie eine*r Bach gespielt haben. Die Zugabe (und die Zweite, die daran schließt) soll zu einem Highlight dieses Freitagabends werden.

Bernstein ist der Mann, der an diesem Abend von oben auf die Veranstaltung blickt. Was er wohl zu dem jungen Isländer Ólafsson gesagt hätte? Wahrscheinlich wäre auch er von dessen Charme eingenommen worden. Und was er wohl zu Cechs uraufgeführtem Werk gesagt hätte? Die Antwort folgt auf dem Fuße. Bernstein beobachtet nicht nur, wie Cech in And Now The News in Different Languages verschiedene Sprachen. Er schreibt ein interkulturelles Manifest, einen Appell an Menschlichkeit als Reaktion auf Kriege und Konflikte im 20. Jahrhundert.

„Kaddisch“, der Beiname seiner dritten Symphonie ist das traditionelle jüdische Totengebet, das er als Mini-Oper mit Sprecherin inszeniert. Dazu zwei Chöre, Steigerungen und Abhänge in Wellenform und verwirrende Harmonien. Alsop dirigiert mit fliegenden Händen das volatile Orchester und Sprecherin Julia Stemberger trägt das Kaddisch so melodramatisch vor, dass es absolut gegenüber allem Irdischen erscheint. Dieser Freitagabend im Konzerthaus hat Bernsteins dritte Symphonie gebraucht, um das vorangegangene zu verstehen. Die Hörer*innen kommen zu der Einsicht, dass keine Komposition nach Bernstein möglich ist, ohne auf dessen Tonsprache zu verweisen.

Und Bernstein? Er hätte auf dieses 4-in-1-Konzert geblickt, und gesehen, dass es gut war.  

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