Von der Kunst, künstlich zu sein
Ohne Öffnungszeiten, Einlassbeschränkungen und limitierte Ticketkontingente: Das Artificial Museum lässt uns jenseits aller Grenzen in die Welt der Kunst eintreten.
Raum, /Raúm/ Substantiv, maskulin [der], Bedeutungen: 7.
Die Definitionsversuche reichen von einem verwendeten Teil eines Gebäudes, über eine nicht fest eingegrenzte Ausdehnung (oder doch fest eingegrenzte Ausdehnung) bis hin zu einem für jemanden, etwas zur Verfügung stehender Platz und einem geografisch oder politisch unter einem bestimmten Aspekt als Einheit verstandenes Gebiet.
Zeit, /Zeít/ Substantiv, feminin [die], Bedeutungen: 5.
Neben einer Aufeinanderfolge der Augenblicke, einem Zeitpunkt und einem eng begrenzten Zeitraum wird auch der verfügbare Teil des Nacheinanders, der Abfolge von Augenblicken oder der benötigte Raum unter dem Begriff der Zeit verstanden.
Was nun, wenn wir uns von diesen bekannten Definitionen zu lösen versuchen?
Die Schwellen zu Kunst- und Ausstellungsräumen wurden durch den Eintritt des Digitalen in ihrer ursprünglichen Beschaffenheit transformiert und die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Künstlichkeit verwischt. Die digitale Nutzung des Raumes bringt die schweren und oft trägen Wände der Museen ins Wackeln. Begrenzte (Zeit)Räume wurden aufgelöst und der zu Verfügung stehende Platz erweitert. Dieser Prozess des Re-Formulierens und Neu-Definierens hat dabei grundlegende Fragen aufgerollt: Braucht Kunst noch einen physischen Raum? Und wenn ja, wie sieht dieser aus?
Auf dem Weg von dicken Gemäuern und geschlossenen Decken öffnen VR, AR, MR und AI die Türen in ein post-digitales Zeitalter, welches diese künstlichen Kunstformen als ein Interferieren von Fiktion und Realität, von Virtuellem und Realem konstituiert. Kunst aus dem Artificial Space ist somit weder eine Absage an den physischen Raum noch an die menschliche Präsenz. Sie ist vielmehr eine Chance, neue Beziehungen und Verbindungen einzugehen. Es gilt also, die Konsequenzen des post-digitalen Zeitalters künstlerisch und teils auch spielerisch zu erforschen, nicht zuletzt, um die dominanten (oft überholten) Vorstellungen über die real greifbare, materielle Idee von Raum und Kunst kritisch in den Blick zu nehmen. Das Auflösen der Narrative kann von institutionellen Zwängen emanzipierten Platz schaffen, für alternative Formen des Zeigens und des Wahrnehmens von Kunst.
“We are open 24/7” – The Artificial Museum
Die beiden Gründer*innen Litto / Daniela Weiss und Jascha Ehrenreich zeigen mit dem Artificial Museum, wie es gelingen kann, die Nutzung von Raum neu zu denken. Als Neuerfindung des klassischen Kunstmuseums definieren sie den öffentlichen Raum as a place for artists to freely express themselves. Eine digitale Landkarte der Stadt Wien (siehe Bild oben) zeigt die Standorte der 52 gps-anchored artifacts, welche basierend auf AR sowohl vor Ort, als auch von zu Hause aus betrachtet werden können. Die in der Stadt verteilten Kunstwerke schmiegen sich an die umgebenden Surfaces an und verschmelzen zu einer Symbiose zweier gegensätzlicher, aber doch kompatibler Realitäten - In jedem Raum, in jedem Zimmer, an jedem Ort zu einer ganz eigenen Synthese. Neues wird in Bestehendes eingeschrieben mit dem Vorhaben, innovative Perspektiven, Wege und Möglichkeiten freizulegen. Das künstliche Museum lässt Veränderungen entstehen und vermittelt zugleich den durch die Technologie ausgelösten, permanenten Wandel von Kunst und Gesellschaft. Gleichsam macht es die Kunst virtuell greifbar und zugänglich: und das jederzeit, überall und grenzenlos, für Jede*n.
Gemeinsam stellt man sich der Frage What is art and who perceives it?. Nach Litto und Ehrenreich ist es der öffentliche Raum, welcher von allen Menschen genutzt wird. Der Raum definiert sich dabei als geteilte, offene Sphäre, die, nicht nur abseits der Pandemieverordnungen, sondern auch abseits klassizistischer und finanzieller Ausschlussmechanismen zugänglich ist. Der öffentliche Raum als mögliches Feld künstlerischer Aktivität und dessen Nutzung richtet sich somit gezielt gegen die kapitalistisch orientierte Profitwirtschaft und gegen die fortwährenden Strukturen des Hortens von Kunstwerken verstorbener, weißer Männer aus.
Das Artificial Museum macht damit deutlich, dass die Dichotomie zwischen öffentlichem und musealem Raum auch mit Strukturen der Macht und des Besitzes verwoben sind. Die dadurch aufgeworfene Frage Wem gehört das Museum? nimmt nicht nur den oft klassenspezifischen Kunstkonsum kritisch in den Blick, sondern auch den exklusiven Charakter der Institution Museum. Durch die Nutzung des öffentlichen Raumes wird eine Dezentralisierung von Kunst und dessen Konsumierung und Vermarktung angestrebt.
Litto/Daniela Weiss und Jascha Ehrenreich haben in der Konzeption des Artificial Museum also nicht nur die Zugänglichkeit zu Kunst umformuliert, sondern auch ein neues Verhältnis zwischen öffentlich und privat etabliert, welches die Praxis eines kritischen Diskurses in institutionelle und zugleich politische Angelegenheiten einführt. Eine Praxis, in der die Rolle des Museums aufs Neue definiert wird und dessen Selbstverständnis in Angriff genommen wird. Das Artificial Museum erschafft damit eine neue Art des Kunst-Zeigens, eine Art dritte Ebene, die den bislang bekannten, klassizistischen Dualismus erweitert. Eine Ebene, die wortwörtlich neuen Raum generieren lässt, nicht nur für digitale Künstlichkeiten, sondern auch für gesellschaftspolitische und institutionskritische Realitäten.
Begriffs-ABC
VR (Virtual Reality): ein virtuelles Abbild einer real existierenden Welt.
AR (Augmented Reality; Erweiterte Realität): Eine computergestützte Erweiterung der Realitätswahrnehmung. Die reale Welt wird mit digitalen Informationen/Daten angereichert.
MR (Mixed Reality): Umgebungen werden zusammengefasst, wodurch sich die reale Welt mit einer virtuellen Realität vermischt
AI (Artificial Intelligence; Künstliche Intelligenz): Überbegriff für Anwendungen, bei denen Maschinen menschenähnliche Intelligenzleistungen erbringen.
gps-anchored: Ein digitaler Anker verwendet ein Ortungssystem (hier GPS), um die Positionsbestimmung eines stehenden Objekts in einer dynamischen Umgebung zu ermöglichen.