Wohltemperiert trotz Eiseskälte

Über kaukasischen Knoblauch, die Besonderheit des russischen Publikums und mein Dinner mit Valery Gergiev – Ein musikalischer Reisebericht über meine Weihnachtsauftritte in St. Petersburg und Vladikavkaz.  

Gefrorener Puderzucker /// Aaron Pilsan (c)

Mir ist die Flüssigkeit in der Nase sofort gefroren, als ich am 22. Dezember in Moskau den Flughafen verließ. -23 Grad eben. Nach einer kurzen Nacht im Hotel bin ich gleich am nächsten Morgen nach Vladikavkaz geflogen. Der örtliche Fahrer des Festivals, der mich abgeholt hat, ist darauf bestanden, dass ich meinen Sicherheitsgurt nicht anschnalle. Später habe ich erfahren, dass es in dieser Region als Beleidigung gilt, sich anzuschnallen, weil das bedeutet, dass den Fahrkünsten des Fahrers nicht vertraut wird.

Vladikavkaz, die Heimat von Valery Gergiev, ist nur etwa 15min von der georgischen Grenze entfernt. Eine wunderbare Landschaft und sehr liebe Menschen erwarteten mich dort, obwohl die meisten (inklusive des Personals am Flughafen und im Hotel) überhaupt kein Englisch sprechen konnten. Glücklicherweise kann man heutzutage mit Google Translate fast alles erreichen.

Wo noch standardmäßig wohltemperiert gestimmt wird…

Nach einem kurzen Nickerchen bin ich dann zur Probe gefahren. Mich erstaunte sehr, dass der Flügel wohltemperiert gestimmt war. Ich hatte zuvor angesprochen, dass ich für das Wohltemperierte Klavier eine wohltemperierte Stimmung wünschte, aber das Festival erklärte mir, dass es für den Stimmer nicht möglich sei, etwas anderes, außer der „normalen“ Stimmung zu stimmen. Tatsächlich aber war es für ihn „normal“, den Flügel wohltemperiert zu stimmen und das noch viel extremer, als ich es sonst selbst verlangte.

Vladikavkaz /// Aaron Pilsan

Heutzutage werden alle Abstände zwischen den Tönen im gleichen Abstand gestimmt. Da sieben Oktaven und zwölf Quinten nicht genau übereinander passen (pythagoräisches Komma), gibt es immer eine gewisse Ungenauigkeit, es klingen also alle Intervalle „gleich falsch“.

Für Bach war es jedoch ein besonderer Reiz, dass einige Tonarten besser klingen und einige schlechter, also nicht alle Terzen, Quinten etc. genau denselben Abstand haben. Das bedeutet „wohltemperiert“.

Endlich ein wirklich impulsives Publikum zur Abwechslung

Im Konzert waren die Menschen unglaublich enthusiastisch und impulsiv, ganz anders als das Publikum in Städten wie Wien. Wenn ihnen ein Stück besonders gefiel, klatschen sie. Wenn sie besonders ergriffen waren, weinten sie. Und wenn sie keine Lust mehr hatten, haben sie den Saal verlassen. Außerdem habe ich unglaublich viele junge Menschen gesehen, die alle fleißig Stories für Instagram gemacht haben und nach dem Konzert mit mir für Fotos posierten.

Eine tolle Erfahrung, dort aufzutreten. Nach dem Konzert gab es ossetischen Pfannkuchen und natürlich durfte es nicht fehlen, den lokalen, besonders guten Knoblauch, im Gepäck mitzunehmen.

Kofferglück nach Mitternacht

Nach meinem Konzert in Vladikavkaz ging es schließlich über Moskau nach St. Petersburg. Leider war mein erster Flug schon zu spät, sodass ich befürchtete, den zweiten zu verpassen. Zwar habe ich den Anschluss dann in Moskau erwischt, mein Koffer ist aber nicht mitgekommen. Da mir das Personal am Flughafen in St. Petersburg nicht wirklich weiterhelfen konnte, habe ich beschlossen, am Gepäckband zu warten und tatsächlich kam mein Koffer mit dem nächsten Flieger dann glücklicherweise an, sodass ich es bis um 1 Uhr morgens ins Hotel geschafft habe.

Obwohl das Wetter in St. Petersburg ebenfalls -20 Grad war, so hatte ich mich schon an die Kälte gewöhnt und freute mich einfach auf die großartige Möglichkeit, beim XVI. Internationalen Klavierfestival in St. Petersburg, das meine Mentorin Mira Yevtich gemeinsam mit Valery Gergiev leitet, aufzutreten. 

Während der Tage der Vorbereitung hatte ich leider wenig Zeit, mir die Stadt anzusehen, aber die Gelegenheit, tolle Kollegen wie Dmitry Shishkin kennenzulernen und gemeinsam mit Gergiev zu einem Dinner eingeladen zu sein. Die Nächte waren sehr kurz, weswegen ich den letzten Tag der Vorbereitung ganz allein verbracht habe, um wirklich 100% Fokus zu haben. Ein Programm wie das Wohltemperierte Klavier von Bach erfordert dies einfach.  

Mit Valery Gergiev

Das Konzert war dann ein wirklicher Erfolg. Ich war natürlich aufgeregt, aber in wirklich guter Stimmung und der Saal sowie der Flügel (ebenfalls wohltemperiert gestimmt) klangen fabelhaft.

Was mir an Russland besonders gut gefällt ist, dass alles perfekt organisiert sein kann, aber trotzdem nicht wie in Österreich oder Deutschland akribisch geplant wird. So weiß man erst was passiert, wenn es wirklich passiert. Das führt zu großer Flexibilität und Spontaneität, die im Leben so wichtig ist. 

In den Prunksälen der Eremitage verlaufen

Am Tag nach dem Konzert konnte ich schließlich doch noch etwas von der Stadt sehen und habe die Eremitage besichtigt. Von diesem wahnsinnigen Palast überwältigt, bin ich über eine halbe Stunde durch über 50 Prunksäle gelaufen und habe mich schließlich verlaufen. Nach einem kurzen Gang zur Blutskirche habe ich bemerkt, dass mein Handy wegen der Kälte nur noch 10% Akkuladung hatte. Trotzdem habe ich es noch rechtzeitig zurückgeschafft, um zum Flughafen abgeholt zu werden, denn ich wusste noch den Weg zum Hotel d’Europe, die mir dann netterweise ein Taxi gerufen haben.

In der Eremitage

Eine kalte, menschlich-warme, wohltemperierte und abenteuerliche Reise

Es ist erstaunlich für mich, welche Kraft von der Musik von Johann Sebastian Bach ausgeht und es ist eine besondere Erfahrung zu erleben, wie unterschiedlich Menschen in Montréal, Wien, Thüringen oder eben Vladikavkaz und St. Petersburg reagieren, wenn sie von der Musik ergriffen sind. Ich glaube fest an die transformative Kraft dieser Musik und das motiviert mich, auch eben einmal eine ferne Reise an Weihnachten zu unternehmen, um sie an den verschiedensten Orten der Welt aufzuführen.

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