Warum Wien gerne New Orleans werden darf

Eine Reise nach New Orleans zeigt, was in der Wiener Musikszene schmerzlich fehlt. Fernab von Radio-Ödland, Gatekeeping und Ageism hält die Geburtsstadt des Jazz einige Inspirationen bereit.

(c) Irving Penn /// Louis Armstrong /// Duke Ellington

Wir befinden uns in Österreich mitten in der Festivalzeit, und aufgrund der Vielzahl an derzeit stattfindenden Konzerten fällt es selbst musikaffinen Menschen wie mir schwer, auf dem Laufenden zu bleiben und einen Überblick zu behalten. Unterhält man sich mit anderen Kulturinteressierten oder Branchenmenschen, so divergieren die Meinungen zum Überangebot. Die einen finden es toll, dass allerorts Kultur geboten wird und dass das Musikprogramm vor allem in der Bundeshauptstadt so dicht und vielfältig ist. Verzückt von den zahlreichen Möglichkeiten lassen sich viele – teils von Hypes gelockt - von einem Event zum nächsten treiben. Andere wiederum sind vom Angebot überfordert und streamen zu Hause lieber Konzerte ihrer drei Lieblings-Bands aus den 70er Jahren. Kann das heimische Angebot, wie bspw. Gratis-Festivals, jedoch die hiesige(n) Musikszene(n) nachhaltig stärken und ein Publikum für Live-Musik generieren?

Der Blick über den Tellerrand

Eine Reise nach New Orleans, in die legendäre “Geburtsstadt” des Jazz, im April dieses Jahres hat mir meinen Eindruck bestätigt, dass in punkto Unterstützung und Wertschätzung von professionellen Musikschaffenden und Abbildung von musikalischer Vielfalt hierzulande Verbesserungspotential besteht. Natürlich sind meine Beobachtungen auch von meinen persönlichen Erfahrungen als Musikerin und Kulturarbeiterin geprägt und mir ist bewusst, dass DIE Musikhauptstadt der USA eine andere Geschichte und ihre Bewohner*innen eine andere kulturelle Zusammensetzung kennzeichnet. Nichtsdestotrotz möchte ich die mir aufgefallenen Unterschiede zwischen New Orleans und Wien in der Popularmusikszene näher betrachten, denn viele davon stimmen mich seit meiner Rückkehr traurig und reißen mich hin und her zwischen Fernweh und dem Wunsch, selbst aktiver für eine Verbesserung der heimischen Lage einzutreten.

Während meines dreiwöchigen Aufenthalts in New Orleans habe ich viele Konzerte in diversen Clubs und auch zwei große Festivals besucht, das French Quarter Festival und das Jazz & Heritage Festival. Ersteres ist ein jährlich stattfindendes, 4-tägiges Gratis-Festival mit mehr als 20 Outdoor-Bühnen in unterschiedlichen Größen, zweiteres findet ebenfalls jährlich an zwei Wochenenden und während insgesamt 8 Festivaltagen auf den New Orleans Fair Grounds statt und gilt als eine der großen Touristenattraktionen der Stadt. Beide Festivals feiern die Kultur und Musik von Louisiana und präsentieren neben Jazz auch andere Stile wie Cajun-Musik, Bluegrass, Zydeco, Funk, Soul, RnB, Blues, Gospel, Americana, Folk, Country, Rap, Pop, Rock und afro-karibische Folklore. Als Fan vieler dieser Genres ging mir in New Orleans das Herz auf, sieht doch das Angebot in Wien bzw. auf österreichischen Festivals diesbezüglich mager aus. Hierzulande findet man vor allem Austropop, Schlager, Indie/Alternative, Unterhaltungs-Rock, alpenländische Volksmusik auf allen Qualitätsstufen, elektronische Musik, Deutschrap und ein wenig Jazz. 

Quo vadis, Jazzfest Wien?

Auch Wien hatte bis vor einigen Jahren ein Jazzfest, das insofern Ähnlichkeiten zu jenem in New Orleans aufwies, als dass es internationale sowie heimische Jazz-Acts von höchster Qualität präsentierte und sich auch für andere Richtungen der U-Musik offen zeigte. Mittlerweile muss man nach Montreux oder Rotterdam fahren, um ein solches Festival zu erleben, denn die Wiederauferstehung des Jazzfest Wien lässt seit der Pandemie auf sich warten. In der Wiener Jazz-Szene scheint man nicht allzu traurig über das Ende dieses Festivals zu sein, schließlich störte man sich ohnehin daran, dass es den Namen Jazzfest trug, obwohl das Line-up auch Acts anderer Stile beinhaltete. Ich persönlich hätte aber nichts dagegen, wieder mehr internationale, arrivierte Künstler*innen aus diversen Genres der Popularmusik auf einem sogenannten Jazzfest zu sehen, wie es in New Orleans möglich ist.

An der Festivalprogrammierung in New Orleans fasziniert mich vor allem der starke Fokus darauf, neben Stars auch möglichst viele regionale Acts zu buchen und dadurch die lokale Musikszene zu unterstützen und zu feiern. Wird man nicht ins Line-up aufgenommen, so bekommt man eine Rückmeldung, die trotz der Absage lobende und wertschätzende Worte für die Musik, mit der man sich beworben hat, enthält. Man bekommt eine Rückmeldung! Mit lobenden und wertschätzenden Worten! In Österreich muss man als Musiker*in oft froh sein, überhaupt eine Antwort zu erhalten. In den meisten Fällen bekommt man auf Kontaktaufnahmen zu Veranstaltenden oder Medienmenschen nämlich gar keine oder nur eine kurze, eher unterkühlte Rückmeldung, die Desinteresse für etwas zum Ausdruck bringt, mit dem man sich – oft aus Zeitgründen – vielleicht noch nicht einmal beschäftigt hat.

Viel lieber bucht man, was einem befreundete Agenturen nahelegen oder was auch auf allen anderen Festivals gerade zu finden ist und dort dann hoffentlich irgendwie funktioniert. Selbstverständlich ist Freunderlwirtschaft kein speziell österreichisches, sondern ein globales Phänomen und wohl auch in New Orleans der Motor für vieles. Aber als noch wenig bekannte Band ohne Netzwerk bzw. die Hilfe von Gatekeeper*innen in Österreich seriös an einer Musikkarriere zu arbeiten, gleicht eigentlich Wahnsinn.

Der Papa wird’s schon richten

Als ich selbst neu im Musikbusiness war, sprach ein Kollege immer wieder davon, wie viele Klinken er in seinem Leben schon putzen musste, um sich seine überschaubare Bekanntheit aufzubauen. Damals habe ich ihn nicht verstanden, mittlerweile weiß ich, was er damit gemeint hat. Kenne ich jemanden bei einem Kulturverein persönlich oder bin ich mit einer Kurator*in befreundet, so stehen meine Chancen auf einen Auftritt gleich um einiges besser. Selbiges gilt für heimische Medien: Kennt man den einen Redakteur oder die eine Journalistin, so ist es viel wahrscheinlicher, dass das eigene Projekt vorgestellt oder die eigene Musik (zumindest 1-2x) im Radio gespielt wird.

Man könnte überspitzt auch behaupten, Wien (oder vielleicht ganz Österreich) funktioniert so: Freunde buchen Freunde und Freunde spielen Freunde; absichtlich ohne Gendern, da es immer noch großteils Männer sind, die Veranstaltungen programmieren, über Musik schreiben oder Sendungen gestalten, und Männer, die Musik machen und auf Bühnen stehen. Dies ist meiner Beobachtung nach allerdings auch in New Orleans nicht anders. Männer bilden die Mehrzahl an Auftretenden, und vor allem an den Instrumenten sieht man überwiegend Profi-Musiker. Wie man als Frau im Musikbusiness wahrgenommen wird und womit man zu kämpfen hat, ist jedoch ebenfalls ein Thema, das den Rahmen dieses Beitrags sprengen würde.

Eine andere Gemeinsamkeit, die mir zwischen Wien und New Orleans aufgefallen ist: Ein in der Szene bekannter Familienname hilft, um Karriere als Musiker*in zu machen. Wie wahrscheinlich überall. In New Orleans sind jene Künstler*innen aus bekannten Musikerfamilien, die ich live erlebt habe, allerdings durchwegs höchst talentiert und beherrschen ihr Instrument... In Wien genügt es manchmal schon, wenn der Sohn eines gewissen So-und-so drei Akkorde auf der Akustikgitarre schrummen kann, um einen Labelvertrag und Auftritte auf renommierten Festivals zu bekommen. Hauptsache man ist jung, hip, selbstbewusst und gut vernetzt. Das bringt mich zu einem weiteren Punkt, den ich in der österreichischen Musiklandschaft neben vorherrschenden misogynen Tendenzen als problematisch beobachte: Ageism.

Old but Gold

In New Orleans berührten mich der Respekt und die Wertschätzung, die jüngere für ältere Musikschaffende hegen. Jüngere Musiker*innen sehen zu älteren auf, lernen von diesen, arbeiten gerne mit diesen zusammen, und bringen bei gemeinsamen Auftritten immer wieder ihre Bewunderung für diese zum Ausdruck. In Wien lässt die derzeitige Beschaffenheit der Live-Szene im Pop-Bereich völlig andere Schlüsse zu, nämlich dass das Interesse an konsequent professionell tätigen Musikschaffenden mit der Dauer ihrer Karriere abnimmt, sofern sie nicht irgendeine Art von Durchbruch hatten und als lebende Legenden mehr schlecht als recht auf der Bühne durchhalten.

Festivalprogramme erwecken den Eindruck, dass ein neues Musikprojekt das nächste ablöst und ein Hype dem nächsten folgt. Ein nachhaltiger Karriereaufbau scheint mittlerweile ein Ding des Unmöglichen bzw. nur mehr wenigen Glücklichen vorbehalten, die zur richtigen Zeit am richtigen Ort waren, sind oder sein werden. Die fehlende wiederkehrende Unterstützung bzw. Abbildung durch heimische Medien tut ihr Übriges, um professionellen Projekten eine Vergrößerung der Hörer*innenschaft und des Publikums zu erschweren. Kommt man im Radio oder Fernsehen nicht vor und hat man auch keinen TikTok-Fame, so verkauft man auch kaum Konzerttickets und Alben. Ähnlich schwierig gestaltet sich übrigens auch der Aufbau eines Musikprojekts ohne das Glück, eine Förderung abzugreifen. Denn wer 10 oder 20 Tausend Euro für eine Albumproduktion erhält, hat logischerweise bessere Startvoraussetzungen als jemand, die*der dieses Geld nicht zur Verfügung hat, um die Produktion umzusetzen und zu vermarkten.

In New Orleans läuft die finanzielle und mediale Unterstützung nationaler Acts grundlegend anders. Festivals werden zwar absurderweise von Großkonzernen wie Shell gesponsert, erzielte Gewinne fließen dann allerdings wiederum in kulturelle Initiativen und wohltätige Projekte. Eine besonders wichtige Rolle für die Szene spielt WWOZ New Orleans, einer der bekanntesten US-amerikanischen Radiosender, den man via Internet erfreulicherweise auch in Österreich empfangen kann. Dieser spielt neben bekannten Jazz- und Blues-Stars überwiegend lokale Musik aus unterschiedlichen Richtungen, täglich werden mehrmals alle Live-Events in der Stadt durchgesagt, und viele der auftretenden Künstler*innen werden auch im Detail vorgestellt oder zum Interview eingeladen. Hierzulande gibt es mit Ausnahme von Ö1, wo eine Handvoll Sendungen zu Jazz oder Popmusik und ein paar Event-Tipps ausgestrahlt werden, bedauerlicherweise keinen öffentlich-rechtlichen Radiosender, der österreichischen Künstler*innen als Plattform dient, die nicht der Jugendkultur oder kommerziell ausgerichteter deutschsprachiger Musik zuordenbar sind. 

Mehr Mut, bitte!

Vielleicht wären Konzerte vieler lokaler Künstler*innen besser besucht und auch deren Album- und Merch-Verkaufszahlen höher, wenn Menschen diese zufällig im Radio entdecken und dadurch auf den Geschmack ihrer Musik kommen könnten. Vielleicht würden auch Veranstaltende anders buchen, wenn die hierzulande existierende Vielfalt aus dem Untergrund geholt und intensiver medial abgebildet werden würde. Einen Versuch wäre es wert, aber dafür müsste man sich im österreichischen Rundfunk mehr für heimische Musiker*innen zu interessieren beginnen.

Auch wenn dieser Beitrag stark von meinem persönlichen Musikgeschmack beeinflusst und meine Kritik an der heimischen Popularmusikszene wohl nur ein Tropfen auf dem heißen Stein ist, so bringt er vielleicht ins Bewusstsein, was besser laufen könnte. Ich werde zumindest mal im Kleinen beginnen, das Positive an der Musikszene in New Orleans in mein eigenes Musikschaffen und meine Kulturarbeit einfließen lasse. Dazu gehört für mich, talentierte und professionelle Musiker*innen unabhängig von Alter oder Genre zu unterstützen, meine Wertschätzung für innovative und herausragende Projekte zum Ausdruck zu bringen und auf Anfragen höflich zu antworten, auch wenn vorerst eine Absage erteilt werden muss. Und dazu gehört auch, davon zu träumen, in irgendeiner Form vielleicht selbst einmal mitzuhelfen, dass sich die derzeitige Lücke an internationalen Top-Acts aus Jazz, Blues(rock), Funk, Soul, RnB, Americana etc. hierzulande wieder schließt und wir uns auch in Österreich über eine wirklich vielfältige Musikszene freuen können.

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