Was ist Luxus und wo treibt er dich hin?

Julie am National Theatre London - Von Party, Pailletten und Macht.

Foto: Klaudia Piaskowska

Foto: Klaudia Piaskowska

Es ist laut, es wird getanzt. Die Atmosphäre erinnert an prä-Lockdown Technoclubs, die Tänzer*innen tanzen choreographiert, aber organisch und mitreißend, sodass es mich von der Couch auf diese Tanzfläche zieht. Die Tochter eines viel zu reichen Mannes feiert ihren 33. Geburtstag in einer schicken wie sterilen Wohnung in London. Ihre junge brasilianische Haushälterin räumt das Chaos hinter ihr und ihren Gästen weg, der Schwarze Chauffeur ihres Vaters soll ein Auge auf sie haben, während sie sich mit Koks volldröhnt.

„Julie“ von Polly Stenham, inszeniert von Carrie Cracknell am National Theatre in London, zeigt die hedonistische Zerstörung einer Frau, die sich schon seit langem selbst verloren hat. Die Neuauflage des Stückes erzählt von sehr ehrlichen – wenn auch sehr betrunkenen – Gesprächen über Einsamkeit trotz Tanzen in der Masse und von der Hoffnung, dass das irgendwann besser wird. Vanessa Kirby spielt dabei Julies Unberechenbarkeit zwischen Verzweiflung und Flirtlaune so nuanciert, dass jeder noch so krasse Bruch in ihrem Spiel glaubwürdig wird.

Die Story lässt ihren Spielpartner Eric Kofi Abrefa im Licht des unsympathischen Opportunisten stehen, da er Julie zu Beginn nicht an sich ranlässt und die Distanz sucht. Aber nach einem Kuss, der zwar von ihr initiiert wird, aber doch irgendwie aus der Luft gegriffen scheint, mit ihr schläft. Nur, um sie dann von seinem Traum zu überzeugen, ein Restaurant in Kap Verde zu eröffnen. Aber sicher hat sie doch das Geld dafür. Es bleibt die Frage offen, wer hier eigentlich wen zuerst ausnutzen wollte.

Die Adaption von Strindbergs „Fräulein Julie“ versucht die Klassenunterschiede, die im Original zwischen Julie und Jean herrschen, über Hautfarbe und Kontostand zu erzählen. An sich interessant und aktuell, aber viele Stereotypen werden nur reproduziert anstatt widerlegt, so bleibt es vage und manchmal anstrengend. Im Endeffekt sehe ich auf der Bühne eine reiche, weiße, junge Frau und ihre zwei BIPoC-Angestellten, wobei „Weißsein” mit Besitz gleichgesetzt wird und „Nichtweißsein” mit angestellt sein. Das Strindberg-Stück wurde aufgrund des Klassenunterschieds der Protagonist*innen bereits in viele historische und politische Kontexte gesetzt, aber irgendwie hatte diese nur halb kommentierte Version einen komischen Beigeschmack. (Es hat mich an die Netflix-Serie Bridgerton erinnert, die zwar einen diverseren Cast hat als andere Kostümfilme, aber das Thema Hautfarbe dann auch nur mit einem Satz anschneidet und nicht weiter ausbaut, sondern eher ab und an Stereotypen auffährt.)

Eine der zentralen Fragen in der Inszenierung ist die nach der Definition und dem Sinn von Luxus. Die Selbstzerstörung Julies, die sich über die gesamten 90 Minuten anbahnt, ist unleugbar. Sie bringt für Jean ihren Vogel um (der zwar davor nicht erwähnt wurde und eher plötzlich auftritt, aber gut) indem sie ihn in der Küchenmaschine schreddert. Die Grausamkeit, die die beiden in einander hervorrufen ist ekelhaft und faszinierend zugleich. Sie hassen sich, schreien sich an und wollen doch auch irgendwie etwas voneinander und beteuern, versuchen zu wollen, einander zu lieben. Wobei bei Kirby als Julie viel spürbarer wird, dass sie nach Zuneigung und Verständnis strebt – bei Abrefa als Jean bleiben da Fragezeichen, was er die ganze Zeit über will, wann sich seine Ziele ändern.

Dass Katarina, die Haushälterin, erst die beiden in flagranti erwischt und einen sehr berührenden Monolog darüber hält, dass ihr Julie damit jede Würde genommen hätte und es ihr dabei wahrscheinlich nicht einmal bewusst war, macht das Privilegien-Fass metaphorisch nochmal tiefgehender auf. Am Ende schluckt Julie etliche Tabletten und liegt zusammengekauert am Boden, sie folgt damit dem Schicksal ihrer Mutter. Als Katarina den Suizid bemerkt und versucht, Hilfe zu holen, bewegt sich die Box, in der sich das Bühnenbild befindet vom Publikumsraum weg – das Geschehen entzieht sich den Blicken des Saales. Diese Bewegung nach hinten und die damit entstehende dynamische Entfernung von den Zuschauer*innen zeigt das Entgleiten einer Kontrolle sowie eine Ohnmacht, die Julie rückwirkend betrachtet die ganze Zeit über ausgestrahlt hat.

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