Wer die Wahl hat…

Goodbye Kreisky von Nesterval im Stile eines digitalen ‘Choose Your Own Adventure’-Spiels.

Foto: Lorenz Tröbinger/Nesterval

Foto: Lorenz Tröbinger/Nesterval

Ausnahmsweise öffne ich die Zoom-App heute nicht für ein Meeting oder ein Seminar, sondern tatsächlich für eine online-Performance (Regie: Herr Finnland). Genauer gesagt, um in einer Kleingruppe mit sieben anderen Personen (wir werden gleich zu Beginn in Breakout Sessions aufgeteilt) an der Beobachtung einer aussterbenden Art teilzuhaben: die der letzten echten Sozialdemokraten. Auch genannt: die „Bedroten“ (ja, genau). Diese wurden kürzlich aus einem Bunker unter dem Karlsplatz geborgen, den Gertrud Nesterval, ehemalige Vertraute Bruno Kreiskys, im Jahr 1970 mit Gleichgesinnten bezog, um ihre Vision der reinen Sozialdemokratie zu verwirklichen und zu konservieren. Sie selbst verstarb 1997 im Bunker. Überlebt haben 14 Bedrote, die nun von den Analyst*innen des Nesterval-Fonds für karitative Zwecke in ein Notquartier in die Generali-Arena gebracht und mittels 50 Überwachungskameras beobachtet werden.

Die bedrohten Bedroten und ihre Rückkehr in die Gesellschaft

Analyse057_Albert (gespielt von Andy Reiter), der meine Kommissionskolleg*innen und mich den Abend über begleitet, gewährt uns nach einer Willkommensansprache direkten Einblick in die live (oder auch nicht-live)-Aufnahmen aus dem Stadion und klärt uns über das strenge System auf, nach welchem die Bedroten ihr Leben im Bunker strukturiert hatten. Strikte Aufgabenteilung regelt, wer was macht (es gibt Versorger*innen, Pfleger*innen, Ideolog*innen…) und wer Entscheidungen für die Gruppe trifft. Letztere Funktion hat (noch) Maria Grün (Alexandra Thompson) inne, doch ihre Demenz hindert sie daran, weiterhin eine gute Vorsitzende zu sein. Somit stehen Wahlen bei den Bedroten an, die nicht nur über den Vorsitz, sondern das Schicksal der Gemeinschaft entscheiden werden: Geht es zurück in den Untergrund? Oder wird der Versuch einer Integration in die heutige, moderne und höchst verkommene Gesellschaft gewagt?

Auch wir Mitglieder der Zoom-Kommission haben unsere Entscheidungen demokratisch und nach den Gesetzen des Matriarchats zu fällen. Die drei Männer in der Runde haben erstmal nichts mitzureden, wenn es darum geht, wem wir über die live-Kameras durch das Stadion folgen wollen. (Und natürlich wollen wir, ganz die Voyeurinnen, die wir sind, die männlichen Bedroten bei der rituellen Waschung ausspechteln, während die Frauen sich auf die Wahl vorbereiten). Schnell stellt sich auch heraus, dass Analyse057_Albert keineswegs so unparteiisch ist, wie zu Beginn behauptet und, dass es mit der „Rechtmäßigkeit der Vorgänge“, die wir ihm als unabhängige Kommission nach unseren Beobachtungen bestätigen sollten, gewaltig hapert. Doch das kümmert uns gerade wenig. Denn wir Wahl-Beobachtenden haben jetzt selbst eine Wahl zu treffen …

Nach etwa 2,5h Spielzeit bin ich erstmal so geschafft wie – Überraschung – nach einem zweieinhalbstündigen Zoom-Call, inklusive der üblichen Wehwehchen. Das Gefühl, das bleibt, ist nicht vergleichbar mit der elektrisierenden Energie, die man von Nesterval-Inszenierungen aus vor-pandemischen Zeiten gewohnt ist. Auch die Immersion will sich nicht so recht einstellen, wenn man im Stream durch ruckelnde Videos abgelenkt wird, Improvisation beinahe gänzlich verschwindet und die eigene Entscheidungsfreiheit sich auf die Abfolge der Szenen beschränkt. Dennoch kommen bei Goodbye Kreisky Erlebnis und Unterhaltung nicht zu kurz und Spielfreudige auf ihre Kosten: Was hier gespielt wird fühlt sich nur eben mehr nach Choose Your Own Adventure Game an als nach immersivem Theater.  

 

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