Tränen, Jubel, Karrieren
Teodor Currentzis eröffnete die Salzburger Festspiele mit einem musikalisch furiosen Auftritt am Pult des Gustav Mahler Jugendorchesters. Alle neuen Entwicklungen der Kontroverse um seine Russlandverbindungen im neuesten Akt des Currentzis-Dramas.
Ich heulte schon bei meiner Konzertvorbereitung im Railjet. Erst, als ich über das Massaker von Babyn Yar las: Die Nazis füllten 1941 eine Schlucht neben Kiew innerhalb von zwei Tagen mit erschossenen Juden und Jüdinnen. 2,5 km lang, bis zu 30 m tief ist dieser Schreckensort, an dem bis Kriegsende an die 200 000 Menschen ermordet wurden, auch Roma, Widerständige, Kriegsgefangene. Ich weinte auch, während ich Schostakowitschs 13. Chorsinfonie hörte, die diese Horrorgeschichte vertont. Als ich in diesem benommenen Zustand zum letzten Wikipediakapitel über die russische Bombardierung der Gedenkstätte in der Ukraine im März kam, hatte ich plötzlich Zweifel, ob Teodor Currentzis der richtige Dirigent dieses Werks beim Eröffnungskonzert der Salzburger Festspiele sei.
Proteste? Fehlanzeige
In meinem letzten Currentzis-Artikel verteidigte ich ihn und ich stehe immer noch dazu, dass er ein außerordentlicher Künstler ist, den die Klassikszene bitter nötig hat. Seitdem kamen weitere Details seiner Russlandverbindungen ans Licht. Schon im April in Wien gab es Proteste vor dem Konzerthaus, jetzt würde es erst recht welche geben, hätte man also meinen können. Nichts da, vor dem Festspielhaus tummelte nur das vorfreudige Festspielpublikum. Die Musiker*innen des Gustav Mahler Jugendorchesters stiegen aus einem uralten Mercedes-Bus und bahnten sich ihren Weg durch die Armani-Gucci-Masse, für die sie in den nächsten Wochen für Umme spielen werden. Unter Currentzis und Blomstedt gespielt zu haben ist auch etwas wert, I guess…
Statt direkt mit Schostakowitsch, startete das Konzert mit einem Kaddisch, dem jüdischen Totengebet. Kantor Naftali Wertheim sang unglaublich fein, fast weinend, begleitet von fast 50 summenden Männern vom MusicAeterna Choir und dem Bachchor Salzburg. Mir flossen schon wieder die Tränen, dank dieser geschickten Programmierung vergaß ich zunächst die ganze Russlandgeschichte.
Currentzis und das GMJO: A match made in heaven
Was folgte, war musikalisch exzellent, berauschend, bewegend. Es war das Debüt Currentzis‘ mit dem GMJO, a match made in heaven. Die jungen Musiker*innen folgten ihm ähnlich begeistert, wie sein eigenes Orchester. Intime Pianissimi, langgestreckt-strebende Crescendi und überwältigende Fortewellen (bei einem stand das Orchester sogar auf, ist vielleicht Theater, mir gefiel’s) waren die Früchte der intensiven Probenarbeit. Der Chor sang, schrie und flüsterte wie aus einer Lunge, es fiel auch von der Aussprache her nicht auf, dass es mal zwei Klangkörpern waren. Solist Dmitry Ulyanov war mit seinem großen Bass der Hauptdarsteller, etwas verstörend war der Moment, als er auf Russisch „O Russland, du mein Volk! Getreulich denkst du international in deinem Handeln“ sang.
Enttäuschend fand ich die Stelle, als Dichter Jewgeni Jewtuschenko in seinem großen Bogen über die jüdische Geschichte auf Anne Frank zu sprechen kam. Bei soften Celestaklängen wird sie als „knospernzarter Zweig im Frühlingswehen“, die nur nach Küssen trachte, verniedlicht. Wenn Männer Geschichte schreiben…
Schostakowitsch blieb in seiner 13. nicht nur beim Massaker von Babyn Yar, er baute sie zu einem Werk über sowjetische Repression aus, zum Ärger der Obrigkeit. Im letzten Satz, Karrieren wird das Dilemma zwischen Karriere und Ehrlichkeit geschildert. Was denkt sich wohl Currentzis, wenn er diese Musik dirigiert? Seit April, als die Kontroverse um ihn seinen ersten Höhepunkt hatte, lieferte er keinerlei Anzeichen dafür, dass er bereit wäre, seine Karriere im ‘neostalinistischen‘ Russland zu gefährden.
Gazprom-Tournee und Auftritt beim Wirtschaftsforum
Stattdessen ging er mit MusicAeterna auf eine ausgedehnte Gazprom-Tournee, spielte auf den Standorten der Firma, die uns gerade den Gashahn zudreht. Im Juni trat er auf dem Wirtschaftsforum in St. Petersburg auf, den der Westen boykottierte, stattdessen waren die Taliban Ehrengäste und Putin drohte uns verhüllt mit seinen Atombomben. Andrey Kostin, Chef der sanktionierten VTB-Bank (Sponsor des Orchesters) und Kuratoriumsmitglied von MusicAeterna, meldete sich im regimetreuen Kommersant zu Wort: Currentzis hätte ihm versichert, Russland nicht zu verraten/verlassen (je nach Übersetzung). Sollen wir nun weiter hoffen, Currentzis würde an einer unabhängigen Finanzierung arbeiten?
Aus seiner Sicht ist die Lage zweifelsohne verzwickt. Würde ihm sein Orchester überhaupt in den Westen folgen, wenn er doch die Seiten wechseln würde? Wenn er Russland jetzt den Rücken kehrt, wird es wohl für Jahrzehnte kein Zurück geben. Und da liegt die (künstlerische) Heimat nicht nur von ihm, aber auch vom Orchester, dort werden sie mindestens so vergöttert, wie im Westen und sicherlich weniger gehasst. Er hat offensichtlich seine Gründe, so zu handeln, wie er das tut. Letztlich sind wir es, die ihn einladen, ihm trotz allem zujubeln. Die Standing Ovations zum Schluss des Konzerts waren musikalisch ohne Zweifel hochverdient. Die lange, gespannte Stille davor war aber vielleicht der passendere Teil der Publikumsreaktion. Wie es jetzt mit diesem Drama weitergeht, steht in den Sternen. Wir werden jedenfalls berichten!