A House of Call: Schon die Spitze des Eisbergs überwältigt
Ob A House of Call die atemberaubendste Komposition bei Wien Modern war? Nach der überaus beeindruckenden Aufführung am im Volkstheater sind zunächst viele Fragen offen. Ein Tauchgang in das Werk von Heiner Goebbels.
Wien, 19. November, ca. 22:50. Nach der Aufführung bin ich zuerst einmal erschlagen. Erschlagen vom Ausmaß und der Vielschichtigkeit eines Werkes, über das ich nach wie vor nicht viel weiß; denn ein Programmheft gab es keines, lediglich ein Din A5 Blatt mit vielen Namen, Jahreszahlen und Verweisen auf Tonaufnahmen, die sich im homöopathisch beleuchteten Saal allerdings kaum entziffern ließen. Heiner Goebbels‘ neustes Werk ist wie ein großer Eisberg: Das was man hört ist gewaltig, auch mal überfordernd, gleichzeitig bewegend und schön, doch es ist eben nur die Spitze. Erst die Materialausgabe offenbart die wahnsinnig profunden Hintergründe der einzelnen Tonaufnahmen, gibt Einsichten in Goebbels‘ Arbeitsweise, frühere Arbeiten, minuziöse Archivrecherchen. Was also ist A House of Call?
Ein Werk, wie man selten eines hört
A House of Call ist eine Assemblage aus Gebeten, Rufen, Aufrufen, Gedichten, Liedern und anderen Tonaufnahmen, mit denen das Orchester in Symbiose tritt, auf sie eingeht, sie umtänzelt, ihnen widerspricht. Es ist ein Werk in 15 Tonkapiteln, ein Liederbuch für Orchester, in denen Goebbels musikalisch den Bogen von A bis Z spannt: Tonaufnahmen aus über 100 Jahren, dazu mal vibender Jazz, mal explosive Avantgarde, mal mystische Ruhe. Die teils sakralen, teils säkularen Aufnahmen stammen aus den unterschiedlichsten Weltregionen und Kontexten; so haben einige der Aufnahmen (zusammengefasst unter dem Namen „Wax and Violence“) einen starken Bezug zum deutschen Kolonialismus in Deutsch-Südwestafrika (heute Namibia). A House of Call ist auch deshalb viel mehr als ein reines Orchesterwerk: es macht Archivaufnahmen zugänglich, setzt sich mit kolonialem Erbe auseinander und öffnet wertvolle Debatten.
Zur Bühne, zum Orchester: alles nicht „normal“
Die kompositorische Konstante dieser Reise um die Welt ist die menschliche Stimme und die durchwegs rhythmische Verankerung. Was die Komposition mitunter so exotisch klingen lässt, ist auf die Wahl der Instrumente zurückzuführen. So gibt es neben dem gängigen Orchester-Inventar viel Schlagwerk (u.a. Cimbalom und Xylofon), Klavier und Akkordeon, die vor allem bei den ruhigen Passagen für eine Stimmung wie aus 1001 Nacht sorgen, so etwa im 5. Tonkapitel („Agash Ayak“, kasachisches Volkslied, um 1925 in Moskau aufgenommen) oder im 13. Tonkapitel („Kalimérisma“, griechisches Volkslied, um 1930 vom Schweizer Musikethnologen Baud-Bovy aufgenommen“). Außerdem sind alle Instrumente verstärkt und werden in mal violettes, mal grünes oder blaues Licht getaucht.
Am ungewöhnlichsten war die Sitzordnung der Musiker*innen des Ensemble Modern Orchestra, die sitzen nämlich nicht halb-, sondern viertelkreisförmig auf der Bühne. Dirigent Vinbayi Kiziboni, der voller Körpereinsatz durch das fast zweistündige Werk leitete, steht nicht mittig, sondern rechts außen im Halbprofil. Raffiniert fand ich, dass das Stück mit dem beginnt, was man anfänglich noch für Proben hält, lange bevor Kiziboni die Bühne betritt. In einem Moment kollektiven Realisierens verstummte dann plötzlich die Schar der Zuhörenden.
Ein tief persönliches Werk voller intertextueller Verweise
A House of Call ist letztendlich auch eine Reise durch Goebbels Biografie. Die “phonografische Sammlung“, wie er die Tonaufnahmen in der Materialausgabe nennt, haben sich aus vielen Reisen, zufälligen Begegnungen und verstreuten Recherchen zu künstlerischen Projekten ergeben, von denen auch einige gar nicht realisiert wurden (wie etwa ein Auftragswerk für den 100-jährigen Jahrestag des armenischen Genozids, hier 7. Tonkapitel „Krunk“). Somit ist das Werk ein sehr persönliches, eine Art Summe und Essenz 40-jährigen Arbeitens, in dem Goebbels nicht nur sich selbst, sondern auch viele seiner großen Vorbilder und Lieblinge, wie etwa Heiner Müller, Pierre Boulez, Samuel Backet und James Joyce, doch auch seine Mutter zitiert. Nicht zuletzt ist auch der Titel des Opus aus James Joyce‘ „Finnegan’s Wake“ entlehnt.
Keine Frage: Heiner Goebbels A House of Call ist ein Gesamtkunstwerk, doch dass alle begeistert den Saal verließen würde ich nicht behaupten; Neben einigen hardcore Fans gab es doch auch die „War-Auf-Jeden-Fall-Interessant-?!“-Fraktion.
Übrigens: Wien Modern erreichte heuer über 22 000 Menschen, deutlich mehr als vor Corona. Schön, dass in Wien auch Neue Musik so stark zieht. Jetzt ist das Festival passé, nächstes Jahr gibt’s wieder Neues zu entdecken.