Am Chaos ist die Maschine schuld

Eine Seilbahnfahrt, die ist lustig? IN DEN ALPEN // APRÈS LES ALPES als eine mühsame Aufarbeitung struktureller Gesellschaftsprobleme.

Volkstheater /// (c) Marcel Urlaub

„Ich glaube, die Heimat hat uns fallengelassen, wie so viele andere auch.

Wieso wären wir sonst hier?“

Was hat ein kleiner Heizlüfter der Firma Fakir mit einem der größten Unglücke Österreichs in den letzten 25 Jahren gemeinsam? Viel, denn er ist der Einzige, der die Schuld auf sich nimmt. Oder wird die Schuld nur auf ihn geschoben? Geht es noch immer um den Heizlüfter, oder handelt es sich hier um etwas weitaus Größeres?

Diese Fragen stellt sich vor allem das jüngere oder nach Österreich immigrierte Publikum, dem der Unfall, welcher sich am 11. November 2000 ereignete, nicht bekannt ist. Für dieses „Kapruner Bergbahnunglück“ wurde bis heute niemand zur Rechenschaft gezogen. Der Beschuldigte: Ein Heizlüfter, welcher unsachgemäß in einer Gondel der Seilbahn montiert wurde. Ausgehend von diesem Vorfall würfelt Claudia Bossard in ihrer Inszenierung am Volkstheater Textstücke von Elfriede Jelineks In den Alpen und Fiston Mwanza Mujilas Après les Alpes zusammen und lässt nicht nur sprachlich ein Chaos auf der Bühne entstehen. Ist Verwirrung immer gut?

Chaos in Traumata – Traumata in Chaos

Bereits ganz zu Beginn der Aufführung erfahren die Zuschauenden, dass alle Personen, die sprechen werden, bereits tot sind. Das bringt eine seltsame Stimmung in den halbleeren Publikumsraum des Volkstheaters. Zunächst finden sich die paradoxerweise nicht mehr lebenden, aber doch handelnden und sprechenden Figuren in einem Bühnenbild wieder, das realitätsnah eine Art Station der Seilbahn darstellt. Der einzige Aspekt, der gleich ersichtlich scheint, ist der riesige, sich drehende Meteorit im Hintergrund. Wie eine dunkle Drohung hängt er in der Luft und macht auf sich aufmerksam.

Je später der Abend, desto abstrakter wird die Bühne. Ja, sie wird, im wahrsten Sinne des Wortes, auseinandergenommen. Der Bühnenboden wird abgerissen, Bühnenarbeiter*innen betreten die Bühne und bringen das gewohnte, naturalistische Bühnenbild zur Seite. Genauso wie die Figuren auf der Bühne fühlt sich das Publikum, als würde es in einem Strudel des Chaos versinken. Immer tiefer, bis kaum mehr etwas Verständliches übrig bleibt.

Zwischen Privilegien und Exklusion

Wer gehört zu den oberen Zehntausend und kann es sich leisten, einen Urlaub in den Bergen zu verbringen? Und was ist mit der jüdischen Bevölkerung, die sowieso immer an allem schuld sein sollen? Was bedeutet ‚Heimat‘ und warum scheint diese so diskriminierend zu sein? Diese Fragen werden im Stück verhandelt, welches aber eher verstört, als aufklärt.

Erstaunlicherweise ist der Text nicht das einzige, was sich hier von Jelineks Seite aus offenbart, sondern auch ihre… Nun ja, Frisur? Anna Rieser betritt die Bühne unverkennbar als Elfriede Jelinek und steht als einzige für den Heizlüfter ein. Wie eine Zeugin des Geschehens plädiert sie für die Unschuld des kleinen Geräts und gibt damit Jelinek selbst eine Stimme. Die Stimme, die sie in ihrem gewohnt provokanten und herausfordernden Text erhebt, während Mujilas Textbausteine auf die koloniale Geschichte der österreichischen Alpenwelt hinweisen. Es bleibt nicht beim unschuldigen Heizlüfter, sondern hinter alldem steckt eine ganze Gesellschaft, die ihre strukturellen Diskriminierungen ständig wiederholt und damit immer weiter festigt.

Wer sich dieses „Double Feature“ ansehen möchte, muss viel Energie und Durchhaltevermögen mitbringen. Doch es lohnt sich, sich der Wucht dieser zwei Texte hinzugeben.

IN DEN ALPEN // APRÈS LES ALPES kann auch die kommende Spielzeit im Volkstheater besucht werden.

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