Emily: Von Introvertiertheit und großen Träumen
Seelischer Wirrwarr
Emily Brontes Geschwister sind längst Realisten, umso größer ist Emilys Fantasie. Sie lebt in ihrer eigenen Welt, das Dorf ächtet sie. Sie meidet Menschen und hält wenig Augenkontakt, selbst ihren Engsten spielt Emily einen grausamen Streich und erfindet in einer Séance die Wiederauferstehung der toten Mutter. Doch wie es das Schicksal will, trifft sie auf Priester Weightman, der ihr Leben vollkommen auf den Kopf stellt. In Harry und Sally-Manier erliegen sie der Versuchung. Hin und her gerissen von ihrer Kunst, ihrer Familie und ihrer Liebe bricht in Emilys Leben das totale Chaos aus. Nur ihr Bruder ermutigt sie, weiterzuschreiben. Die fast schon “Fifty Shades of Grey” anmaßenden Texte hasst selbst Weightman. Der gesellschaftliche Druck dröhnt ihr schon in den Ohren, werden ihre Bücher jemals jemandem gefallen?
Wunderschön und real
Emily entstammt der Feder von Frances O'Connor, die mit diesem Film ebenso ihr Regiedebüt feiert. Der Film weitet die Biographie der realen Emily Brontë aus, deren Buch "Wuthering Heights" die Vorlage der Liebesgeschichte im Film ist. Der Cast, bestehend aus Emma Mackey als Emily Brontë, Oliver Jackson-Cohen als Priester Weightman und Fionn Whitehead als Emilys Bruder Branwell, ist fantastisch. Der Film fühlt sich so real an. Man spürt den stereotypisch-britischen Regen auf der eigenen Haut, meint ihn manchmal sogar zu riechen. Emily streift mit dem Finger über Mauern, berührt die Seiten ihres Buchs, Dinge, die auf faszinierende Weise vertraut wirken. Es herrscht eine mitreißende Stimmung, in die man eintauchen will. Die wunderschönen Bilder brennen sich in die Netzhäute ein. Das Set-Design unglaublich, vom selben Macher, der “Grand Budapest Hotel” ausgestattet hat. Die aufwendigen Kostüme erinnern an Downton Abbey und sind teils so detailliert, als wäre man selbst in den Kleidern. Der Soundtrack von Abel Korzeniowski ist wie eine wärmende Umarmung und setzt dem Film als wirkliches Highlight die Kirsche auf.
Seltsam relatable
Problemlos könnte diese Geschichte auch in der Jetzt-Zeit spielen. Von Drogenkonsum, widerlicher Oberflächlichkeit bis hin zu Frauenemanzipation werden gesellschaftskritische Positionen im Setting des 19. Jahrhunderts angesprochen. Emily ist zudem klar introvertiert und fast schon Misanthropin. Nach dem Myers-Briggs-Typenindikator würde Emily wohl INFJ sein. Sie ist eine einzigartige Persönlichkeit und wird von Fantasie, Idealismus und Empathie gesteuert. Das Streben nach Anerkennung Emilys Könnens oder nach Akzeptanz ihres Wahnsinns sind Gefühle, die man stark nachempfinden kann. Das Tabu, Künstlerin zu sein, ist zu groß - damals wie heute. Der Film macht die Seele von Emily greifbar. Alle haben sich in solchen Situationen schon mal wiedergefunden. So schafft er es, die besten, hässlichsten und verrücktesten Seiten von Emily hervorzukehren und zu vereinen. Sie hat so viel Tiefe, die einem bis ins Mark geht. Selten sieht man so eine realistische Darstellung einer Person.
Wie man nicht als Grantler endet
Man verlässt den Film mit dem Appell, mehr aus dem eigenen Leben zu machen. Emily war immer in ihrem Haus oder Garten, hat sich mit den immerselben Menschen umgeben und hatte keine Freunde - vollkommener Stillstand. Doch plötzlich beginnt sie, wirklich zu leben. Alle haben einmal das Gefühl, dass sich ihr Leben nur im Kreis dreht. Der Film “Emily” zeigt den Ausbruch aus diesem Perpetuum mobile. Emily zeigt vor, wie man seiner Passion folgt. Große Träume werden immer häufiger von der Ernsthaftigkeit des Erwachsenseins oder der niederschmetternden Realität im Keim erstickt. Optimistisch bleiben ist in der heutigen Zeit ein Drahtseilakt. Doch sich selbst zu verwirklichen ist das größte Geschenk, das man sich selbst machen kann. Man sollte sich selbst einfach viel mehr erlauben zu träumen.
Begriffe und Definitionen
Myers-Briggs-Typenindikator: Instrument, mit dessen Hilfe die von Carl Gustav Jung entwickelten „psychologischen Typen“ erfasst werden sollen.