Das Rezept zur Weltaneignung
Wo finden wir zurück zu uns? Das Kollektiv Resonanztanz weist den Weg durch Hartmut Rosas Soziologie der Weltbeziehungen und öffnet den Raum für Verbindung.
Freitagabend, kurz nach 19 Uhr. Ich sitze in der U4 und um mich herum tummeln sich die Menschen. Niemand schaut sich ins Gesicht, alle starren aufs Handy oder geradeaus in die dunklen Tunnel des Wiener Untergrunds. Die einzigen Berührungen finden an den Haltestangen statt, und selbst diese sind kurz und ohne Zuneigung. Wer möchte das schon? Mit Fremden interagiert niemand gern, aber wo soll das hinführen?
Mich führt es in den Zuschauerraum des Theater Arche, den Blick auf die rot erleuchtete Bühne gerichtet. Der Saal ist voll und es wird eifrig in den Programmheften geblättert. Ich begreife, wer Familie ist, wer Freund*in und wer anonyme*r Zuschauer*in. Ich gehöre zu Letzteren, fühle mich ein wenig allein, aber der Schutz des Theaters umhüllt mich mit wohliger Aufregung.
Um Resonanz soll es gehen, um das Aufeinander-zugehen, aber auch um Einsamkeit und den Kampf um Anerkennung in einer Welt, in der alle so schnell wie möglich so weit wie möglich zu kommen haben, um einen Wert zu erlangen. Fünf Menschen bewegen sich auf der Bühne vor uns, mal alleine, mal miteinander, mal gegeneinander. Berührung, Wut, Panik. Und dann: Zusammenkunft, gemeinsam Schall und Raum einnehmen und diese neu gestalten.
Biomüll und Verletzlichkeit
In bunt schillernden Tönen wird uns die Welt plötzlich klein gemacht, erfahrbar und nah. Ich spüre die Anstrengung, den Mut und den Wunsch, gesehen zu werden. Ist das wirklich so? Sind wir uns so entfremdet worden, dass es zwei Stunden Eierschalengeknackse und Alufolienmusik braucht, um uns daran zu erinnern, dass wir nur gemeinsam gegen den Schnellstrom der Leistungsgesellschaft ankommen?
Ja. Und die Performenden zeigen uns, wie: Durch Berührung. Wir berühren einander ständig, in der Bahn, auf dem Heimweg vom Büro, im Internet. Und doch merken wir es nicht, wir entziehen uns dem Bann des Beisammenseins, denn nur allein kommen wir an unser Ziel. So die Idee. Und was daraus entsteht, ist vollkommene Einsamkeit zugunsten der vermeintlich erstrebenswerten Individualität. Das eine kann mit dem anderen koexistieren, sagt der deutsche Soziologe Hartmut Rosa. Letzteres muss das kollektive Beisammensein nicht ausmerzen, zeigen die Performenden.
In vier Akten erzählen sie Hartmut Rosas Soziologie der Weltbeziehungen: Interdisziplinär aufgebaut wird uns behutsam die mühsame Suche nach dem Glück in einer Gesellschaft wie unserer dargelegt. Zu Beginn: Motorische Handlungen, starre Blicke, das klassische Aneinandervorbeiziehen, das so typisch ist für die Großstadt. Die Bilder ähneln einer Panikattacke, welche in den darauffolgenden Akten liebevoll durch Geigenmelodien und chorischen Gesang gelöst wird. Etwas Neues beginnt: Eine Art Selbstfindung im Schutz des Rampenlichts. Ich komme mir ein bisschen vor wie eine Voyeuristin, die Menschen auf der Bühne in solch intimer Auseinandersetzung mit sich selbst zu beobachten. Der Wagemut der Zerbrechlichkeit, die dem “Sich-öffnen” innewohnt, wird eingefangen durch unzählige Eierschalen, in denen sich die Performenden winden, sie neugierig begutachten und zärtlich besingen. Es ist unbehaglich und wohltuend zugleich; ein Sinnbild für Rosas soziologische Aushandlung.
Zur Schönheit des Makels
Es wird getanzt, gesungen, gemeinsam geatmet, gekämpft, gekuschelt, gehapert und auch mal gezankt. “Menschen machen Fehler. Das eint uns.”, heißt es im letzten Akt. Das Kollektiv Resonanztanz zeigt mit ihrer Performance, dass es keinen Grund zur Sorge gibt: Gerade diese unsichtbaren Räume zwischen uns und unseren Mitmenschen; zwischen Erwartung, Wunsch und Makel, machen das Leben authentisch und lebenswert. Oder wie Hartmut Rosa sagen würde: Es braucht eine Bereitschaft zur Verletzlichkeit, um sich die Welt anzueignen und wirklich in ihr zu leben.
Die Performer*innen rollen Alufolie aus, verbinden sie mit Sensoren und schaffen aus dem Material eine Fläche, die Berührungen in Klang umwandelt. Nach und nach treten einzelne Zuschauer*innen auf die Bühne, finden ihren Platz auf den glänzenden Wegen und beginnen zaghaft, einander zu berühren. Was als vorsichtiges Klangchaos beginnt, wird schnell zu einer kollektiven Erfahrung der Resonanz von Tönen, die unterschiedlicher nicht sein könnten und doch so gut zueinander passen. Die interdisziplinäre Tanzperformance macht das vermeintlich Offensichtliche deutlich: Nur gemeinsam kann man Schall erzeugen und Wellen schlagen, doch nur wenn man sich selbst auch wahrnimmt, kann man den Schritt Richtung Gegenüber wagen. Es braucht Mut, sich verletzlich zu zeigen, sich zu berühren und der Lohn ist riesig: Die Performenden ernten jubelnden Applaus.
Freitagabend, kurz vor 23 Uhr. Ich sitze in der U4 nach Zuhause und um mich herum tummeln sich die Menschen. Eine Gruppe Jugendlicher amüsiert sich im hinteren Abteil. Normalerweise würde ich sie ignorieren, die Musik auf meinen Ohren lauter drehen. Doch anstelle der Musik hallt Knacken der Eierschalen in meinen Ohren und ich lächle ihnen zu. Einer lächelt zurück, es entsteht eine Verbindung. Ohne Worte, ohne Gestik und nur zwischen uns beiden besteht diese Berührung, bis ich am Schwedenplatz ankomme und diesen kleinen, selbst geschaffenen Resonanzraum verlasse. Ich lache und gehe nach Hause. Allein, aber nicht wirklich.