Gedenktafeln zum Vergessen

Eine online Datenbank zur Erinnerung an Wiens Gedächtnisarchitektur — inklusive Nazi-Notizen am Heldenplatz, 1400 Euro für eine Metalltafel und sozio-politischer Kartografie für die guten Wiener*innen.

© Bohema Magazin

Erinnerungen sind keineswegs Thema der Vergangenheit. Das betont vor gerade einmal einem Monat auch die Stadt Wien aufs Neue: Die Kulturstrategie 2030 rückt Gedächtniskultur ins Zentrum vom Leben in der Stadt — gleichauf mit Diversität, Fair Pay und Klimaschutz. Allem voran steht dabei der freie, geförderte Zugang zur Geschichtsschreibung. Denn, so das Argument, nur dann ist eine kritische Auseinandersetzung mit der Stadtgeschichte möglich.

Zu verstehen ist dieser Ansatz auch als Kompensation für eine Gedächtnispolitik- und Architektur, die in den Nachkriegsjahren einen Großteil der Bevölkerung links liegen gelassen hat. Während das jetzige Bildungsministerium das Thema Erinnerungskultur lediglich durch einen Schrägstrich von Antisemitismusprävention trennt, wird 2002 im Zentrum der Hauptstadt noch den Helden der Wehrmacht gehuldigt.

Innerhalb von 70 Jahren hat sich damit auch die Gedächtnislandschaft von Wien fundamental verändert — und der gesamte Prozess lässt sich "nachschlagen" in einem Archiv, für das man weder einen Bibliotheksausweis noch weiße Handschuhe braucht.

Ein Forschungsprojekt der Uni-Wien, betitelt Politics of Remembrance and the Transition of Public Spaces: A Political and Social Analysis of Vienna, oder ein bisschen handlicher, kurz POREM, nimmt sich schon vor acht Jahren den Gedenkstätten Wiens an. Zwischen 2014 und 2016 analysiert eine Gruppe von Historiker*innen, Politikwissenschaftler*innen, Soziolog*innen und Sprachwissenschaftler*innen Wiens Erinnerungskultur im öffentlichen Raum gleich auf verschiedensten Ebenen. Das Ergebnis ist eine digitale Karte der Stadt, ein Archiv aller in Wien errichteter und den Austrofaschismus oder die NS-Zeit thematisierender Denkmäler.

Screenshot der Website Politics of Remembrance (POREM) / © POREM

Ähnliche Online-Visualisierungen für andere europäische Städte — besonders viele Karten von Berlin (man kann sich denken warum), die meisten geben die Möglichkeit Adressen oder Personen zu suchen, findet man zuhauf— zwar allesamt im Webformat der 2010er, aber deswegen nicht weniger interessant für den ein oder anderen Geschichtsfanatiker (deprimierende Randnotiz: in dem Haus im 16., in dem ich gerade mein WG-Zimmer habe, hat offenbar ein Herr Josef Wiblinger gewohnt, der 1941 in Dachau gestorben ist).

Was das Projekt von Peter Piker und Walter Manoschek et.al. besonders macht, ist der Überblick, den es gibt. Es kategorisiert einzelne Denkmäler und bindet sie damit ein in politische, zeitliche und soziale Kontexte. Man beginnt Trends zu sehen, die sich erst im Zusammenfassen mehrerer Jahrzehnte herauskristallisieren: einen ‚memory boom‘ ab 2006, eine Flaute in den Nachkriegsjahren. Die Karte präsentiert Wiens Denkmäler also als ein öffentliches Verzeichnis, in dem laufend gesellschaftliche Werte baulich gespeichert werden. Grundsätzlich kann so auch die alltägliche, architektonische Stadtlandschaft beschrieben werden, der Chefredakteur von ARCH+ definiert sogar den ganzen Bereich der Architektur so. Was im Falle von Erinnerungskultur dazu kommt ist die Intention, ein kuratiertes Bild mit ausgewählten Beiträgen, von ausgewählten Leuten, an ausgewählten Orten zu schaffen. POREM sagt uns also zum Beispiel nicht nur was den Leuten wichtig war und wann, sondern auch wer diese Leute waren, denen etwas wichtig war, und was das alles für unsere Stadt bedeutet.

Wessen Erinnerungen? Von wem, für wen?

Obwohl die neue Kulturstrategie explizit "niederschwellige" Zugänge zu Geschichtsschreibung betont, die es mehr Menschen ermöglichen soll teilzunehmen, sind in Wien interessanterweise bereits eine überwältigende Mehrheit aller Gedenkstätten von der Zivilbevölkerung initiiert. POREM verzeichnet hier 1119 Denkmäler zwischen 1945 und 2018, im Vergleich zu 397 von der Stadtverwaltung im selben Zeitraum. Selbst wenn man nur auf sehr große, prominente Denkmäler fokussiert, sind weitaus mehr privaten und lokalen Initiativen zu verdanken.

POREM differenziert hier aber gleich noch einmal: Wie man in der Kategorie ‚social identity‘ sehen kann: es geht nicht nur um ‚founders‘, sondern um ein von wem, für wen. Die Karte zeigt, dass der öffentliche Raum immer nur einem Teil der Vergangenheit vorbehalten ist, einem, den jede Generation von Initiatoren neu definiert, und selten ausgewogen allen zur Verfügung steht.

Bis Mitte der 90er wird Opfern des NS-Regimes beispielsweise nur in halb-öffentlichen und privaten Räumen gedacht, etwa am jüdischen Friedhof. Stattdessen wird ein Großteil aller öffentlichen Gedenkstätten Widerstandskämpfer*innen gewidmet — die Manifestation eines sehr spezifischen Selbstbildes einer Stadt und Nation. Die altbekannte Opferthese, wenn auch realitätsfern, war also allem voran ein politisches Instrument, mit dem man sich Zahlungen an die Alliierten ersparen wollte, und hat sich anfangs eigentlich kaum in Erinnerungsarchitektur niedergeschlagen.

Erst ab 2000 nimmt die Anzahl der Gedenkstätten für Opfer in der Öffentlichkeit zu, ab 2006 spricht man von einem regelrechten ‚memory boom‘, der aber nicht auf Österreich beschränkt, sondern — spät aber doch — in ganz Europa zu spüren ist und der versucht, sich mit allen Opfern auseinanderzusetzen.

Mit noch einem Blick auf die Karte (inkl. ein paar Filtern) wird aber auch klar, dass es schwerfällt, mehr als nur eine Gruppe als Opfer anzuerkennen. Während Jüdinnen und Juden es nun doch auch ins bauliche Stadtarchiv geschafft haben, bleiben Andere — Homosexuelle, Roma und Sinti — auf der Strecke, sind also verhältnismäßig wenig vertreten im öffentlichen Raum. Folgen haben diese Aussparungen allemal.

Zum Beispiel: "fehlende" Erinnerungen machen sich nicht nur in der Architektur bemerkbar; homosexuelle Verfolgte wurden erst 2005, also nachdem fast alle Betroffenen verstorben waren, ins Opferfürsorgegesetz aufgenommen.

Das große Geld

Wenn eine „besonders hohe gesellschaftliche Relevanz” besteht und es deshalb besonderer Anstrengungen bedarf, kann die Politik einspringen. So zumindest im theoretischen Idealfall. Das politisierte Pendant zu zivilen Projekten kann sich natürlich (finanziell) einiges mehr leisten, läuft aber Gefahr, nicht die Gesellschaft widerzuspiegeln, sondern eher aus strategischen Gründen heraus zu entstehen.

Wenn Stolpersteine in Trottoirs auf der einen Seite des Spektrums liegen, dann finden sich Denkmäler wie das Eisenman Mahnmal in Berlin oder das 9/11 Memorial in New York auf der anderen. Die Anschaffungspreise hier (27.6 Millionen Euro für ersteres, 700 Millionen US-Dollar für zweiteres) lassen 700 Euro für eine Plakette schwach aussehen und führen einem vor Augen, was alles möglich ist in Sachen Erinnerungen. Der Preiszettel, das ultimative Mittel der Qualitätsbestimmung, kann offenbar nicht zu hoch sein - wenn nur das politische Klima passt.

In Wien hat das politische und gesellschaftliche Klima lange Jahre nach dem Krieg nicht so wirklich gepasst — was man anhand von einer der ältesten Gedenkstätten direkt im Zentrum der Stadt, gleich neben der Nationalbibliothek, besonders gut beobachten kann. Das Heldendenkmal, den gefallenen Soldaten beider Weltkriege gewidmet, war ein Fixpunkt bei Staatsbesuchen, also ein Teil der repräsentativen österreichischen Identität - schaut aber auf Jahrzehnte von Widersprüchen zurück. Angefangen als Sinnbild des Austrofaschismus unter der Ständestaatdiktatur, wird es ab 1938 von Nationalsozialisten okkupiert. Schon 4 Jahre vorher, 1935, versteckt der österreichische Bildhauer, langjährige Vorstandsangehörige der Secession, und Wiener Kunstprofessor Wilhelm Frass eine Notiz unter der Statue des toten Soldaten in der Krypta des Denkmals. Und erst 2012, 77 Jahre später kommt ein (unbeabsichtigter) Austausch zum Vorschein: Frass‘ Notiz ruft auf zur Einigung Österreichs mit Deutschland unter dem Hakenkreuz, darin liege die Zukunftsvision des Denkmals - und das zu einer Zeit als die Nationalsozialistische Partei, wenn auch nicht mehr lang, in Österreich noch illegal war. Dagegen hält Alfons Riedl, möglicherweise Frass‘ Gehilfe, in einer zweiten Notiz: er wünsche Österreich eine Zukunft, in der überhaupt keine Kriegsdenkmäler mehr gebaut werden müssen.

Krypta © MKÖ / Sebastian Philipp

In der Zwischenzeit nimmt das Denkmal viele Rollen an — manche Frass‘, manche Riedls Vision entsprechend. Es wird Schauplatz von Ehrungen gefallener Soldaten, abgehalten von Burschenschaften und verschrien wegen Kriegsverherrlichung, auch aber von Gegendemonstrationen, angezettelt von den Wiener Grünen, der SPÖ und der IKG (Israelische Kultusgemeinde) — und ständig geht es um die Rolle der Wehrmacht in Österreich. Nachdem 2012 Empörung über Frass‘ Notiz die Debatte gewissermaßen beendet, versucht man das Gedenkmal zu kontextualisieren — generalüberholt wird es aber nie.

Mit der allgemeinen Stimmung hat sich in den letzten 20 Jahren aber auch die Erinnerungslandschaft gewandelt und neuere Denkmäler stehen in starkem Kontrast zur Nachkriegszeit.

Deserteursdenkmal, Ballhausplatz, Wien 2014 © Foto: Iris Ranzinger/KÖR, Deserteursdenkmal.at

Generell werden große, politisch unterstützte Denkmäler heute als Wettbewerb ausgeschrieben, von KÖR (Kunst im öffentlichen Raum) betreut und automatisch von der Stadt Wien finanziert. Fast ein Sinnbild für den Wandel: seit 2014 steht kaum 100m vom Heldendenkmal entfernt, am Ballhausplatz, ein Deserteursdenkmal. Im selben Jahr wird auch das Heldendenkmal selbst ein wenig ausbalanciert — heute ist es sowohl Wehrmachtsoldaten als auch Widerstandskämpfer*innen gegen die Wehrmacht gewidmet und versucht so, den Widerspruch stehen zu lassen.

ARCUS (Schatten eines Regenbogens), Denkmal für die im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen / © KÖR GmbH, 2023

Zwei noch aktuellere Beispiele sind das Mahnmal Aspangbahnhof in Wien Landstraße, von wo aus insgesamt 45.451 Jüdinnen und Juden deportiert wurden, und ARCUS, das erste permanente Denkmal für homosexuelle Verfolgte des NS-Regimes. Und auch wenn vielleicht der amerikanische Hang zum Dramatischen fehlt (und ich leider nicht ganz nachvollziehen wie ein grauer Regenbogen das Resultat von 17 Jahren Entwicklung - inklusive „umfassende[r] Community-Beteiligung“ und 2 Jahre künstlerischem Wettbewerb — sein kann), es wird heute Aufwand betrieben, die Sache richtig zu machen.

MHD: Jänner 2024?

Generell ist klar: Erinnerungsstätten sind nur so relevant wie ihre Verwendung - keine Erinnerung ohne aktive Teilnahme. Oder?

Zivile Beteiligung hat nämlich bis zu einem gewissen Grad immer ein Ablaufdatum. Eine der privaten Initiativen, die in Wien Gedenkstätten verwirklichen, ist der Verein Steine des Gedenkens: Die 20x20 Metalltafeln, von denen es heute allein im 3. Bezirk 99 Stück gibt, werden durch den Verein am letzten bekannten Wohnort von Opfern des NS-Regimes in den Gehsteig eingelassen - mit der Kulturabteilung der Stadt Wien wird alles geregelt. Den finanziellen Aufwand von 700 Euro pro Stück (eigentlich 1400, die zweite Hälfte wird zum Glück gefördert) nehmen fast ausschließlich Verwandte der Verstorbenen, oft Personen, die geflüchtet sind und jetzt im Ausland leben, auf sich. Auch die Motivation von ehrenamtlichen Mitarbeiter*innen stammt nicht aus sporadischen Erzählungen fremder Erfahrungen, sondern eher aus der eigenen Kindheit in der Nachkriegszeit. Mit bald 78 ist Thomas Breth, Vorsitzender im Bezirk Landstraße, einer der jüngsten im Bunde. Also ja, die zivile Bevölkerung hat sich um Erinnerungen bemüht, größtenteils basiert das aber auf einer Verbindung, die mit unserer Generation verloren geht. Was die POREM-Karte nicht mehr einfangen kann, ist ein Zeitraum nach dem ‚memory boom‘. Am 18. Jänner dieses Jahr wurde ein Memoire eines Holocaust-Überlebenden veröffentlicht — höchstwahrscheinlich eines der letzten seiner Art. Vielleicht geht es also in Zukunft nicht darum, eine emotionale Bindung künstlich aufrecht zu erhalten, sondern darum, Denkmälern neue Relevanz als Teil eines Netzwerks zu geben, das alte und junge Perspektiven einander gegenüberstellt.

Gedenkobjekte des Projektes „Erinnern für die Zukunft“ in Wien, Österreich (Mariahilfer Str. Ecke Otto-Bauer-Gasse) / © Doris Antony

Mit jedem Stimmungswechsel, Regierungswechsel und jeder neuen Generation wird das Stadtarchiv also widersprüchlicher und bekommt zusätzliche Informationsebenen — von Josef Wiblinger und LGBTQI+ Anerkennung, über Antisemitismusprävention bis hin zu Soldatenhuldigungen. Blöderweise ist ein architektonisches Archiv aber ein Privileg, das erst auffällt, wenn es nicht mehr zur Verfügung steht. In einer Stadt wie Wien, der über Weltkriege hinweg viel ihrer Architektur geblieben ist, fällt es vergleichsweise leicht, die verschiedenen Schichten der Vergangenheit im Stadtbild wiederzufinden und sich daran zu orientieren. Im weitesten Sinne kartografiert POREM also nicht nur ein Verständnis für die Vergangenheit anderer, sondern auch für das eigene Leben in einer Stadt.

Also, vor allem für alle, die Samstagabend was Besseres zu tun haben, als ihren Vormietern nachzutrauern: auch ohne Faible für die Vergangenheit ist Wiens Erinnerungslandschaft interessant, gerade weil man sie eben nicht als geschichtlichen Bericht lesen kann, sondern als Manifestation von Machtverhältnissen, die sich bis in die Gegenwart ziehen.

Weil man aber über Stolpersteine selten wortwörtlich stolpert, und ich bis vor Kurzem nicht mal wusste, dass seit letztem Jahr ein LGBTQ-Denkmal am Karlplatz steht: ein Plädoyer für Gedenksteine, Gedenktafeln, und einen Stadtplan aus 2018, und wieso in einer Stadt wohnen immer auch Archivarbeit sein müsste.

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