Die Deutungshoheit der Josefine Mutzenbacher
Vier Männer auf der Casting-Couch. Die einzige Frau hinter der Kamera: Ruth Beckermann. Gemeinsam mit ihrem Männerchor geht sie der Frage nach, wer die Mutzenbacher eigentlich war. Doch das ist gar nicht so leicht zu beantworten.
Josefine Mutzenbacher oder Die Geschichte einer Wienerischen Dirne, von ihr selbst erzählt ist ein österreichischer Erotikroman von 1906. Publiziert wurde er anonym, als wahrscheinlichster Autor wird allgemein Felix Salten genannt – bekannt vor allem für Bambi. Die Geschichte folgt dabei dem Werdegang einer wienerischen Dirne, die rückblickend von ihren Anfängen erzählt. In Deutschland war der Roman bis in die 1960er verboten bzw. stand auf der Liste für jugendgefährdende Schriften. Der Zeitraum des Buchs erstreckt sich nämlich von ihrem achten bis zu ihrem dreizehnten Lebensjahr. Und lässt dabei kein Detail aus.
„Josefine Mutzenbacher ist … “
Wer ist die Josefine Mutzenbacher? Wofür steht sie? Die Antwort darauf hängt ganz von Adaption und Medium ab, aber vor allem davon, wer ihr Autor, wer ihr Publikum ist. Gerade deshalb, weil noch nicht einmal die Grundfrage geklärt ist, ob es sich bei dem Roman vielleicht doch um eine Autobiographie handelt. Auch die Frage, wann welche Tabus wie (nicht) gebrochen werden, auf welche Szenen besonders bedacht gelegt wird, welche Auslassungen es gibt, ist interessant zu beleuchten.
Am einfachsten geht das mit einem Vergleich der verschiedenen Versionen der Mutzenbacher: dem Roman, einem Film, einer Dokumentation und einem Porno.
„… ein Kind.“
Der Roman beginnt mit gleich zwei Vorworten; eines des anonymen Herausgebers, eines der Mutzenbacher selbst. So gesehen ist der Leser komplett aufgeschmissen, ob es sich hier um echte Begebenheiten handelt oder nicht. Die junge „Fini“ erzählt hier also ihre diversen Abenteuer. Zunächst ist sie noch schüchtern und unerfahren, wenn die Nachbarskinder Mutter-Vater spielen. Mit der Zeit sammelt sie dann mehr Erfahrung und ergreift auch selbst die Initiative. Nach guter erotischer Manier werden hier alle möglichen Stellungen und Konstellationen durchgegangen: Inzest mit Bruder und Vater, Dreier mit Kindern und Erwachsenen, Voyeurismus, Masochismus, Prostitution, mit allen Stellungen, die man sich so ausmalen kann.
Als Leser befindet man sich hierbei in einer gewissen Zwickmühle. Ist es nun Literatur, oder Pornographie – also „Gebrauchsliteratur“? Interessant – und mitunter auch verstörend - ist hier vor allem der Aspekt, dass die Josefine immer einen gewissen Grad an Kindlichkeit behält. Die erwachsenen Männer weisen immer wieder darauf hin, auch wird das Entjungfern und die Anfänge als schmerzhaft beschrieben. Sie ist zwar stets willig, behält aber beispielsweise gegenüber Autoritätspersonen den gewissen kindlichen Respekt. So tritt sie dem Lehrer oder dem Pfarrer eher schüchtern und furchtvoll entgegen, während sie gegenüber anderen Männern weniger Genierer hat.
Und auch das Buch selbst und die Welt des Romans erkennt ihre Kindlichkeit an. Dass sie es mit dem eigenen Vater tut, muss geheim bleiben. Und die Sache mit dem Pfarrer führt sogar zu einem Verhör beim Kommissariat. Dass der Verkehr mit Minderjährigen allgemein öffentlich nicht geduldet ist, wird also nicht unter den Teppich gekehrt. Im Endeffekt treibt es aber trotzdem jeder mit jedem.
„… eine Sozialistin.“
Kurt Nachmanns Film Josefine Mutzenbacher (1970) ist die bekannteste Filmadaption des Romans. Einer der unzähligen deutschen Sexfilme der 1970er unterscheidet er sich aber stark von den vielen, die zur selben Zeit unter demselben Dach der Lisa Filmproduktion und teilweise von Nachmann selbst produziert wurden. Statt einer seichten Sexkomödie erinnert der Film eher an die sozialkritischen Low-Budget-Filme der 1970er (Jesus von Ottakring, Hartlgasse 16a, Genossinnen). Es gibt Nacktheit, aber nicht so plump und fröhlich wie in beispielsweise der Wirtin von der Lahn. Stattdessen spielt der Film viel mit visuellen Anspielungen und Metaphern. Sex zwischen Kindern wird durch Stop-Motion Stofftiere dargestellt, ein aufgerichteter Zeigefinger stellt den Schwanz des Priesters dar. Wenn die Josefine selbst im Bild ist, ist sie keine dreizehn mehr, sondern eher um die siebzehn oder achtzehn. Vieles davon mag Selbstzensur sein, aber es scheint eher, als wollte sich der Film von den anderen Sexfilmen unterscheiden.
Der Film ist nämlich überraschend politisch. Josefine kehrt nach Jahren nach Wien zurück, und will anstatt dem kaiserlichen Hof lieber die Gosse ihrer Jugend besuchen. Sie diskutiert mit ihrem Begleiter über die scheinheilige Sitte und Moral der Oberschicht, und zeigt ihm die Welt der Proletarier, die sich nicht um die feine Moral scheren, sondern frei ihrem Gelüsten und Trieben nachgehen. Sie führt dieses Verhalten auf fehlende Bildung und finanzielle Mittel zurück, und dass Sitte immer abhängig von der jeweiligen Situation ist. Also warum sorgt der Staat nicht für bessere soziale Umstände, wenn er Sitte und Moral als seine Grundlage ansieht? Ihr Begleiter nennt sie darauf eine Sozialistin – im abwertenden Sinn gemeint, versteht sich. Der Film geht sogar so weit, eine Szene hinzuzudichten, in der der Vater - aus Verzweiflung und Geldnot heraus - versucht Selbstmord zu begehen. Also, wenn einen das nicht in Stimmung bringt.
Ein interessanter Aspekt am Rande: der Priester, der sich bei der Beichte an jungen Frauen vergeht, wird hier als falscher Pfarrer enttarnt. Gegen die Kirche traute man sich dann wohl doch noch nicht zu hussen.
„… eine Hure.“
Dem deutschen Pornofilm Josefine Mutzenbacher, wie sie wirklich war (1976) und seinen Fortsetzungen fehlen allfällige politischen Ambitionen naturgemäß. Es handelt sich hier wohl um die treuste Adaption des Romans – auch wenn der Wiener Dialekt nicht ganz authentisch wirkt. Wieder erzählt die erwachsene Mutzenbacher von ihrem Werdegang. Aber auch hier beginnt der Werdegang der Fini mit um die sechzehn. Es ist natürlich etwas anderes, ob man 1906 anonym ein Buch publiziert, oder in den 1970ern einen ganzen Film dreht. Es gelten nun mal andere Grenzen der Moral und Tabus – auch finanziell bedingt. Allerdings ist hier beispielsweise der Pfarrer wieder ein echter Pfarrer, dafür ist aus dem Vater der Stiefvater geworden.
Dem Medium entsprechend, fokussiert sich dieser Film auf die wichtigsten Stellen des Romans. Die ohnehin schon sehr kurzen Einleitungen zum jeweiligen Akt werden hier nochmals verkürzt, es wehrt sich niemals jemand gegen den Akt – nicht mal „anstandshalber“. Generell folgt man hier den allgemeinen Regeln des Genres. Jeder und jede kommt immer und überall, statt hinein wird immer auf den Körper gespritzt. Die Josefine ist hierbei viel koketter und schon zu Beginn an forscher und „erfahrener“ in ihrem Verlangen. Sie geniert sich kaum. Selbst beim Verhör steht sie zu ihrem Verhalten, während sie im Buch noch darauf bedacht war, sich selbst zu schützen und sich als Opfer – will heißen: keusch und unwillig - darzustellen. Im Gegensatz zum Buch wird hier der Analverkehr auch explizit abgelehnt. Interessant auch die Szene mit einem ihrer Kunden, ihrem „Sklaven“. Hier das bekannte Spiel von Erniedrigung und konkreter Rollenverteilung. Im Roman hingegen bewegen sich die Charaktere auf zwei Ebenen. Wie die „Herrin“ einmal einen einstudierten Satz überspringt, korrigiert sie ihr Kunde, bevor er wieder in die Persona des Sklaven schlüpft. In dieser Adaption zielt alles auf den Gebrauch hin – alles wird vereinfacht. Bezug zur Realität ist in den zwischenmenschlichen Interaktionen nurmehr sehr bedingt gegeben.
„… eine Frau.“
Egal ob Roman, Film oder Porno: den Rahmen bildet immer die Erzählung der bereits erwachsenen Josefine Mutzenbacher. Der Autor bzw. Regisseur ist allerdings immer (wahrscheinlich) ein Mann. Zwar nimmt vor allem der Roman darauf Rücksicht, dass auch die weiblichen Charaktere zum Zug kommen und befriedigt werden. So beschwert sich mal die Mutter, dass es ihr bei ihrem Mann nicht kommt. Beim Nachbarn dann wiederum schon. Es stellt sich natürlich die Frage, ob der weibliche Orgasmus wirklich als Zeichen der Emanzipation gemeint ist, oder doch eher zur Entschuldigung und Rechtfertigung für übergriffiges Verhalten nutzt. Im Endeffekt hat's doch eh immer allen gefallen.
Ruth Beckermann lädt für ihren Dokumentarfilm Mutzenbacher (2022) dutzende Männer zum Casting ein, unter dem Vorwand, einen Spielfilm drehen zu wollen. Geht man nicht davon aus, dass die Mutzenbacher tatsächlich existierte – es sich um eine Autopornografie handelt – hat erstmals eine Frau die Feder in der Hand. Sie lässt die Kandidaten Passagen aus dem Buch lesen oder nachspielen. Sie stellt ihnen aber auch Fragen zu ihrer Meinung zum Inhalt oder zu eigenen Erfahrungen. Sie urteilt dabei nicht über so manche – nicht mehr ganz salonfähige – Aussage, sie hakt nur unerbittlich nach. Meist lässt sie die Männer einfach nur reden. Der Schnitt obliegt schlussendlich natürlich ihr.
Wer spricht und urteilt hier nun über die Josefine Mutzenbacher? Sie selbst, der Autor, die männlichen Leser, oder die Regisseurin? Und was ist dabei meine Rolle, ich, Autor dieses Essays?
Für eine mehr wissenschaftliche Beleuchtung der Person Mutzenbacher ist der Band Die Mutzenbacher. Lektüren und Kontexte eines Skandalromans sehr zu empfehlen.