Don Jose, ein missverstandener Mörder

...und warum er auf dem Papier der Literaturvorlage sexyer ist als auf der Bühne - Die männliche Hauptfigur von Bizets Carmen neu beleuchtet.

Foto: Wikimedia commons (c)

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Um ehrlich zu sein: Ich habe nie Carmens Männergeschmack verstanden. Nach einem explosiven Leben verliebt sie sich plötzlich in einen unschuldigen Soldaten mit einem Retter-Komplex. Er rettet sie vor einer (übrigens gerechtfertigten) Schuldigsprechung, sie schenkt ihm eine Rose, et cetera et cetera – und da haben wir die leidenschaftliche Liebesgeschichte. Aber Don Jose entpuppt sich nicht einmal als komplette Enttäuschung, sondern es ist von Anfang an klar, dass er kein Rückgrat hat – und vor allem keine Trinkfestigkeit. Und solch ein Kerl soll Carmen ihr Leben kosten?

Ein Torrero namens Llorenc? Klingt wie Guilhaume, der Pizzabäcker…

Da Carmen gefühlt jedermanns Lieblingsoper ist (inklusive Brahms, der mindestens 20 Aufführungen besuchte), fand ich es interessant die originale und gleichnamige Novelle von Prosper Mérimée zu lesen. 1847 geschrieben – das sind 28 Jahre vor der Uraufführung der Oper – ist sie überraschend spannend und keck. Als Resultat hatte ich eine Eingebung und ein paar überraschende neue Fakten ergattert: Carmen war vor Don Jose verheiratet, die Geschichte zieht sich über Jahre hinweg und Escamillo (der Torero) kommt in maximal fünf Sätzen vor und heißt in Wirklichkeit Llorenc.

Aber vor allem die Charakterisierung der zwei Hauptprotagonisten gibt uns ein viel runderes Bild der Erzählung: Don Jose als aufgeblühte Überraschung mit einer viel komplexeren Psyche und Carmen wie wir sie kennen - nur noch einen Tick gerissener, lebhafter, schöner, lasziver, fataler.

Der emotional zerbrochene Bösewicht

Es gibt zwei Don Joses in der Geschichte: den vor, und den nach Carmen. Der davor wäre ein eher enttäuschendes Tinder-Date; der danach hätte einen innerhalb von Sekunden um den Finger gewickelt. Wir kennen nur die erste Version aus der Oper, aber als ich anfing zu lesen und die zweite Version kennenlernte – er ist der Erzähler der Geschichte – hatte ich den Gedanken, dass wenn ich Carmen wäre, ich absolut jeden Torero der Welt für ihn ignorieren würde. Er ist nicht nur würdevoller und weiser, aber auch der meist gefürchtete Bandit Spaniens. Er ist das Inbild des Traums für Menschen, die einen gefährlichen Männergeschmack haben.

Jedoch, ebenso wie er sexy ist, ist er auch bitter und scheint resigniert. Aus vielen schwierigen Situationen kommend – aller Ursprung Carmen – wünscht er sich eigentlich bloß ein einfaches Familienleben in Amerika. Aber seine Dame weigert sich mit ihm mitzugehen, da sie zu den Gaunern gehört, zu ihren Leuten, zu ihrem Beruf (was auch immer dieser sein mag…). Der arme Don Jose kann offensichtlich nicht ohne sie leben und bleibt, zum kriminellen Leben verdammt, da er mit dem Entschluss, bei Carmen zu bleiben all seine Titel und Möglichkeiten verloren hat.

Sex, Drugs und Streitereien

Sie streiten viel, sie lieben viel, sie laufen und trinken viel – und während sie stets glücklich bleibt, wird er immer elender und unglaublich eifersüchtig. Seine Eifersucht frisst ihn bei lebendigem Leibe, er reist ihr hinterher nach Sevilla, nach Granada – und ermordet ihren Ehemann. Ihre Reaktion? Ein Schulterzucken und ein Auflachen.

Wir konzentrieren uns immer auf Carmen und winken Don Jose als schwachen und eifersüchtigen Mann ab – obwohl er alles andere als schwach ist, er ist bloß missverstanden. Aus einem einfachen Leben und vom Traum einer militärischen Karriere kommend, geht er stattdessen durch Erniedrigung, Herzbruch, physischen Schmerz, Verlust seiner Identität, seines Verstands und durch viele Demütigungen von der Person die er zutiefst liebt. Wir assoziieren Carmen mit all dem Drama und Trauma, die meisten sehen sie als das Opfer (was nicht schwierig ist, in Anbetracht dessen, dass sie ermordet wird) und als komplexe Figur. Aber ein Blick ins Buch, und es gibt zwei davon.

Bizet – ein versteckter Feminist?

Versteht mich nicht falsch: Ich verteidige nicht einen krankhaft eifersüchtigen Mann der seine Liebhaberin ermordet hat. Ich versuche ein anderes Licht darauf zu werfen, eine Freud'sche Erklärung seiner Gründe (ich bin mir sicher Dr. Freud hätte seinen Spaß mit den beiden gehabt: „Und sagen Sie mir, Jose, tanzt Carmen für Sie so wie Ihre Mutter es immer getan hat?“). Ein Bild, welches Bizet bewusst zu Gunsten Carmens malte – in Zeiten in welchen jeder einen elenden, komplizierten jungen Mann als Helden wollte.

Er hätte den Kerl als den gebrochenen Liebhaber der keine andere Wahl hatte als die grausame, sündige Frau zu töten. Er hätte Carmen bloß als Mittel zum Zweck in Don Jose's tragischer Geschichte benutzen können, er hätte 10 zusätzliche Arien für ihn schreiben können – aber er tat es nicht. Sogar wenn es Spekulationen sind, würde ich gerne glauben, dass Bizet müde von immer derselben Story war, immer derselben Wendung. Er erkannte den Wert und Stärke Carmens, ihrem unglaublich interessanten Leben, ihrem herausstechend intelligenten Kopf. Und sogar wenn sie am Ende stirbt – so lässt er sie schön und stolz sterben, wie sie es verdiente.

We have already written an article about the new (or not so new) Carmen in the Wiener Staatsoper, so if you want to be a Carmen nerd - check it out too

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