Gefangen im Orchestergraben

Proserpina wird gegen ihren Willen in der Unterwelt festgehalten – eine spannende One-Woman-Show der Neuen Oper Wien.

Gefangen in einer grauen Welt /// Neue Oper Wien, Kalinka Photo (c)

Der mythologische Stoff der Entführung Proserpinas in den Hades, inspiriert Künstler*innen seit Jahrhunderten. Auch Johann Wolfgang von Goethe nahm sich der Tochter Jupiters an und verfasste einen Monolog der unglücklich Gefangenen, den der zeitgenössische Komponist Wolfgang Rihm vertonte. Die Neue Oper Wien bringt das entstandene Monodram im Theater Akzent zur österreichischen Erstaufführung und präsentiert Rebecca Nelsen in einer ungewöhnlichen Inszenierung.

Auf der Bühne sieht man eine große Leinwand, durch die sich das dahinter platzierte Orchester und der Chor leicht durchschimmernd erahnen lassen. Ein Film startet und verwandelt den Theatersaal in ein außergewöhnliches Kino, denn Proserpina wird die Bühne tatsächlich erst zum Applaus betreten. Ihr Monolog ist ausschließlich auf dem Bildschirm zu sehen und verleiht trotzdem das Gefühl der Liveness, zumal man die musikalische Darbietung direkt im Raum miterlebt.

Doch wo ist Proserpina?

Proserpina ist gefangen in der Unterwelt, dem Orchestergraben, und bleibt den Zuschauerinnen und Zuschauern verborgen. Aus den vier Wänden des Grabens gibt es kein Entkommen: Sie steckt in einem einheitlich grau möblierten Zimmer fest, das Jalousien ohne Fenster, Bilderrahmen ohne Bilder und Bücher ohne Text beinhaltet. Das Mädchen mit dem Blumenkleid befindet sich also in einer Welt, die nicht zu funktionieren scheint und ist dort ganz auf sich alleine gestellt.

Rebecca Nelsen im grauen Graben /// Neue Oper Wien, Kalinka Photo (c)

Die Entwicklung, die Proserpina während ihres Monologs durchläuft, wird als eine Mischung aus präexistentem Filmmaterial und Live-Aufnahmen durch sechs Kameras aus dem Orchestergraben, auf die große Leinwand der Bühne übertragen. Ein voyeuristisches Gefühl stellt sich beim Publikum ein, zumal man die Gefangene in ihrem „Kerker“ aus nächster Nähe und verschiedensten Perspektiven beobachtet und doch eine gewisse Distanzhaltung zum Bildschirm wahrt.

One-Woman-Show

Rebecca Nelsen liefert eine beeindruckende One-Woman-Show als Proserpina ab. Die Partie ist nämlich nicht nur musikalisch höchst anspruchsvoll, sondern reizt auch die schauspielerischen Grenzen der Darstellerin aus. Besonders in dieser außergewöhnlichen Produktion, die es dem Publikum ermöglicht, jedes schauspielerische Detail riesengroß auf dem Bildschirm mitzuverfolgen, ist es eine hohe Kunst, den Wahnsinn der (hier tatsächlich) Eingesperrten authentisch zu mimen und auch das Singen dabei natürlich und kinderleicht aussehen zu lassen. Eingebettet in den Klang des amadeus ensemble-wien unter der Leitung von Walter Kobéra und verstärkt durch Damen des Wiener Kammerchores, schwingt sich Rebecca Nelsen mit Bravour in die Höhen ihrer Rolle.

Vom Wahnsinn verfolgt /// Neue Oper Wien, Kalinka Photo (c)

Das Publikum reagierte unterschiedlich auf die innovative Regie von Anna Bernreitner, die in der Ausstattung von Hanna Rosa Öllinger, Manfred Rainer und Devi Saha eine Proserpina zaubert, wie sie noch nicht gesehen wurde. Meine Sitznachbarin goutierte dies mit einem Nickerchen, ein paar Leute verließen die Premiere frühzeitig, doch die Meisten harrten bis zum Schluss, um nach großem Applaus den Orchestergraben zu begutachten, der sich als Schauplatz der vergangenen Stunde entpuppte.

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