Grafenegg Diaries

Ein komplett missglückter, ein furioser und ein fast perfekter Abend: Was davon war Lieblingslockenschopf Sir Simon Rattle zu verdanken? Wochenbericht vom Grafenegg Festival.

Sir Simon in Action /// Oliver Helbig (c)

Die Woche begann mit musikalischem Ersterben. Zum einen in Bezug auf das sehr gut zusammengestellte Programm, das mit D’un matin de printemps von Lili Boulanger, den Vier letzten Liedern von Richard Strauss und der 6. Sinfonie von Tschaikowski jeweils (die) Spätwerke der drei Komponist*innen präsentierte. Doch leider nicht nur, man muss es sagen: Das Luzerner Sinfonieorchester unter Michael Sanderling kam derart unkoordiniert und holperhaft daher, dass das einzig Gute an dem Abend das milde Wetter blieb.

Wenn das milde Wetter das einzig Positive ist…

Bei Strauss ging der Sopran von Joyce El-Khoury komplett im Stimmengewirr des Orchesters unter, über Tschaikowskis Pathétique, würde ich am liebsten gar nicht sprechen, pathetisch war da wenig! Die Sinfonie auf die Summe der Noten reduziert, das Tempo träge, die ganze Sinnstruktur dieser mächtigen Komposition ignoriert. Umso größer war die Hoffnung auf die beiden darauffolgenden Tage, an denen das London Symphony Orchestra am Wolkenturm gastieren würde.

Während beim Pittsburgh Symphony Orchestra unter Manfred Honeck die Woche zuvor vor allem vereinzelte Programmpunkte herausstachen, – so habe ich beispielsweise noch nie eine derart spirituelle und in sich gekehrte Interpretation (Hélène Grimaud) von Ravels Klavierkonzert in G oder eine derart nuancierte Interpretation von Tschaikowskis 5. Symphonie gehört –, so hat am ersten Abend mit dem LSO einfach alles gepasst. Alles, angefangen beim exzellent austarierten Programm, typisch für Simon Rattle, der Werke von Berlioz, Sibelius, Bartók, Ravel und Zeitgenossen Kidane miteinander in Beziehung setzte. So begann der Abend fulminant, rasend und gleichzeitig mühelos mit der Ouvertüre von Berlioz Le Corsaire. Mit Kidanes Sun Poem (2022) stand ein sehr meditativ-rhythmisches Stück an zweiter Stelle, das allen Vorurteilen der zeitgenössischen Klassik – abgehackt-upgefuckt – eiskalt den Rücken wandte. Mit La Valse von Ravel, einer Apotheose auf den Wiener Walzer, ging es mit rhythmisch wunderbar koordinierten Abbrüchen ebenfalls beflügelt in die Pause.

Jean Sibelius 7. und letzter Symphonie, ganz und gar von den stimmgewaltigen Streichern des LSO und einem fast bittenden, flehenden Rattle getragen, leitete etwas ruhiger in den zweiten Teil. Gerade hier bei dieser Sinfonie, die einen so naturnahen Charakter vermittelt, finnische Landschaften heraufbeschwört, trug die einmalige Kulisse um den Wolkenturm – der Schlosspark mit seinen jahrhundertealten Bäumen, die frische Brise, das Wetterleuchten in der Ferne – maßgeblich zur Magie dieses Abends bei.

Mit Dem wunderbaren Mandarin von Béla Bartók zog das Orchester in puncto rhythmischen Könnens und Kongruenz noch einmal alle Register, bevor der stimmgewaltige Rattle nach tosendem Applaus sich gottähnlich und auf Deutsch an sein Publikum wandte, – sodass die Betonkonstruktion des Wolkenturms regelrecht zu beben begann und im Hintergrund wirklich die Blitze zuckten –, und eine Zugabe verkündete. Das letzte Stück wurde demnach die Pavane von Gabriel Fauré, die den Abend mit einer fantastischen Soloflöte nicht besser hätte abrunden können.

Und Mahlers „Auferstehungssinfonie“ am Samstag?

Mahlers 2. Symphonie – ganz egal wie oft man sie hört, wann wird kein einziges Mal vergessen, so gewaltig und majestätisch, so transzendent ist dieses Œuvre! Spätestens als sich der Chor erhob und das wunderbare Alt (Sarah Connolly) zum „Aufersteh’n“ ansetzte, verlor man jedes Raum-Zeit-Gefühl.

Allerdings wirkte es ein bisschen so, als hätte sich das Orchester vom Vortag noch nicht ganz erholt. So gewaltig diese auch Symphonie ist, die Interpretation vermittelte doch eine gewisse Zügellosigkeit und das vor allem in Bezug auf die Lautstärke im Blech. Am Wolkenturm hätte das vielleicht gepasst, doch nicht im Auditorium, wo das Konzert wetterbedingt stattfinden musste.

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