„Ei Jedermann! Hast deinen Schöpfer ganz vergessen?“

fragt der Tod und wieder einmal ist es Zeit für Reue, Gebet und die Diskussion: Wie viel Progressivität halten Stück und Festspiele-Publikum aus?

Verena Altenberger als die Buhlschaft /// SF, Matthias Horn (c)

Es ist das Stück, dessen Besetzung und Inszenierung jährlich auf einmal ganz Österreich interessiert, und zu dem jede*r eine Meinung hat. So kommt es mir zumindest vor. Meine Oma meint beispielsweise, der heurige Jedermann, der gefalle ihr nicht. Sie habe zwar nichts gegen modernes Theater, aber ein ganz „nackerter Jedermann“ nur in Unterhose, das sei ihr zu viel. Hinzu kommen Debatten wie die zur Kurzhaarfrisur der Buhlschaft, die gewisse Gemüter schon im Vorjahr erhitzten. Eine vielversprechende Inszenierung also.

Ein Salzburger Mythos

Tod, Schuld und Sühne. Mit archaischen Themen kommt Hugo von Hofmannsthals Stück daher. Der moralisch korrupte Jedermann, der weder anderen hilft noch ans Seelenheil denkt oder (Gott bewahre) nach Wunsch seiner Mutter „ehelich“ wird, wird vom Tod überrascht – und im letzten Moment doch noch von Reue und katholischem Glauben erfasst und von seinen Sünden reingewaschen. Amen. Dass das „Mysterienspiel“ bereits 1920 die allerersten Salzburger Festspiele eröffnete, trägt zum Pathos des jährlichen Spektakels bei. Und da wäre noch die Abhängigkeit vom Wetter: Die verwandelt schon die Stunden vor der Aufführung des eigentlich für den Domplatz konzipierten Stücks in ein Drama, wenn sich über Salzburg die Wolken zusammenziehen. Schließlich wird klar: Heute findet die Aufführung im Festspielhaus statt. Oh weh.

Zugegeben: Es ist aufregend, über den Platz vor dem Festspielhaus zu schreiten, plötzlich umringt von Dirndln, Anzügen und hochhackigen Schuhen. Mich überkommt das Gefühl, gleich einer aus dem Fernsehen bekannten Persönlichkeit zu begegnen. Doch so vertraut bin ich mit der High Society nicht und der Glamour in der allerletzten Reihe hält sich auch etwas in Grenzen.

Die polarisierende Inszenierung

In der 2021 erstmals aufgeführten Inszenierung von Michael Sturminger wird der Versuch merkbar, manche Szenen neu zu erzählen. Was der Regisseur als „Sehgewohnheiten über Bord werfen“ bezeichnet, macht in Anbetracht der langen Aufführungstradition durchaus Sinn. So werden Rollen aufgebrochen, Szenen in neue Kontexte versetzt und à la Postdramatik aufgepeppt: Aus dem armen Nachbar wird ein Ensemble, der Schuldknecht steigt mit dem im Fatsuit steckenden Jedermann in den Boxring und wird in einer choreographisch beeindruckenden Szene sehr wörtlich vor den Kopf gestoßen.

Die beeindruckend choreografierte Boxringszene /// SF, Matthias Horn (c)

Und gleich zu Beginn mimt Verena Altenberger als Buhlschaft auf den Schultern von Lars Eidinger dessen Worte. Und übernimmt schließlich selbst den Text, was ihre Rolle als mindestens auf Augenhöhe mit ihrem Liebhaber etabliert. Als Jedermann dann verzweifelt nach Begleitung ins Jenseits sucht, hinterlässt sie ihm ihren Schleier in einer wortlosen Verabschiedung. Diese kommt im Stücktext nicht vor und gibt Beziehung und Figur weitere, dringend notwendige Tiefe.

Edith Clever als Tod brilliert in ihrer vollkommenen Gleichgültigkeit gegenüber Jedermanns Flehen und weist ihn mit minimalen Bewegungen in die Schranken. Mavie Hörbiger sorgt als Teufel am Ende noch für einen Comic Relief, bevor die Bekehrung endgültig vollbracht ist. Eine weitere Lieblingsszene ist Mirco Kreibichs grotesker Balletttanz mit Fatsuit und Joker-Schminke als Mammon.

Was bleibt am Ende noch zu sagen?

Fraglich bleibt für mich zwar, ob die erstmals nur weibliche Besetzung aller theologischen Instanzen die feministische Schlagkraft liefert, die der Regisseur im Programmheft heraufbeschwört. Am Ende ist Jedermann immer noch kein furchtbar progressives Stück. Doch gerade darum ist eine solche Inszenierung ein Schritt in die richtige Richtung. Die performativen Elemente, die bunten und assoziativen Kostüme und das Aufbrechen mancher Rollen tun Jedermann gut.

Ein Stück, das derartige mediale Aufmerksamkeit erhält, darf und muss sich etwas trauen. Und ja, Jedermann trägt Unterhose. Aber die ist passend eingesetzt: In den Armen der Buhlschaft, beim seelischen Reinwaschen und schließlich auf den Knien des Todes. In welcher Pietà-Darstellung trägt Jesus schon Anzug? Mit diesem christlich aufgeladenen Bild, das Pathos und Bildgewalt noch einmal auf den Punkt bringt, endet dieser Jedermann. Aber keine Sorge. Der nächste kommt bestimmt.

Pietà-Szene mit der berühmten roten Unterhose /// SF, Matthias Horn (c)

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