Grazer Russischprüfung
Emmanuel Tjeknavorians erstes Mal mit Tschaikowskis fünfter Sinfonie: Ein Konzert, wofür ich bereit war mitten in der Woche nach Graz zu fahren. Hat es sich gelohnt?
Stürmerstar Mo Salahs Lächeln ist ansteckend. Nach der ersten Saisonniederlage von Liverpool hatte er am Sonntag kaum Gründe, fröhlich zu sein. Stellvertretend für seinen Lookalike lächelte ein paar Tausend Km weiter im Grazer Musikverein Emmanuel Tjeknavorian umso mehr (ok, zwei junge Männer mit Locken und Bart, Congrats zu deinem Vergleich Dávid...). Mit gutem Grund: Er spielt als Geiger mit 26 schon in der Champions League, konnte an diesem Abend mit den Grazer Philharmonikern aber ein Ausrufezeichen an seinen Wunsch setzen, auch als Dirigent dort anzukommen.
Weltklasse Akustik in Graz?
Um zumindest einen Rest vom Mythos der journalistischen Objektivität zu wahren, sei es hier erwähnt, dass wir nach meinem Interview mit ihm (out soon) persönlich vom Star des Abends eingeladen worden sind. Sonst wären wir kaum für ein Konzert nach Graz gepilgert, selbst wenn laut Wiki der Stefaniensaals „zu den akustisch besten Konzertsälen der Welt zählt“. Tatsächlich war der Klang des eröffnenden Violinkonzerts von Glasunow breit und warm, erinnerte etwas an den Wiener Musikverein.
Solistin Alina Pogostkina spielte kraftvoll und präzise, das Orchester brachte das Level, was man vom Klangkörper einer Landeshauptstadt erwartet und Tjeknavorian sorgte für ein gutes Zusammenspiel, doch trotzdem zündete das Stück bei mir zunächst nicht wirklich. Das mehrstimmige Doppelgriff-Spiel Pogostkinas in der Kadenz war immerhin wirklich beeindruckend und das fröhliche Blechthema des Finales machte dann doch Spaß. Für diese Interpretation hätte sich die Reise allerdings nicht ganz gelohnt.
Sírva vigad a magyar
Das Publikum war auch nicht wirklich Feuer und Flamme, es reichte aber für eine Zugabe: Tjeknavorian spielte mit Pogostkina „das traurigste Neujahrslied, das Sie je gehört haben“ (wie er ankündigte) sowie ein Tanzlied von Bartók. Die zwei Geigenstimmen kreisten wie feine Rauchschwaden umeinander, der Spruch „sírva vigad a magyar“ (der Ungar feiert weinend) behielt dabei seine Gültigkeit.
Und dann: Der eigentliche Grund meiner Grazreise, Tjeknavorians erstes Mal mit Tschaikowskis fünfter Sinfonie. Die Einleitung gelang noch mysteriöser als bei der verlinkten Mravinsky-Aufnahme, war auch etwas langsamer. Dann zog Tjeknavorian das Tempo an, feuerte die Grazer an und sie folgten ihm mit Vergnügen und stellten ihre vorangegangene Glasunow-Performance selbst in den Schatten. Aber so richtig. Schlecht war sie ja keineswegs, nur spielten sie jetzt plötzlich mitreißend gut. Spätestens ab Minute drei breitete sich ein tschaikowskyhungriges Grinsen auf meinem Gesicht auf und ich vergaß all den Stress der letzten Tage.
Tjeknavorian hielt seine Philharmoniker*innen durch den ganzen Satz auf Trab, war eine strahlende Energiebombe. Das Tempo war keineswegs rasend, doch wenn man wie ich auf Gennadi Roschdestwenskis majestätischer Aufnahme aufgewachsen ist, ist es kein Wunder, dass man sich die groß aufblühenden Stellen vielleicht noch breiter wünscht (selbst schuld...). Ich glaube, es war bei der Stelle ab 11:20, als auch Tjeknavorian stark gestikulierend noch mehr Herzschmerz verlangte.
Russischprüfung bestanden
Die feierlich tieftraurige Streichereinleitung des zweiten (Lieblings-) Satzes trocknete mir den Mund aus, wie das sein sollte. Tjeknavorian holte wirklich alles aus dem Orchester, Gänsehaut pur. Die extralange Generalpause verfehlte ihre Wirkung nicht, am Ende weinte Alexandra leise neben mir. Emmanuel, ich gratuliere dir zur bestandenen Russischprüfung! Nach der kurzen Valse schließt die Sinfonie im letzten Satz mit einer immensen Tour de Force. Wegen dieses bombastischen Triumphmarsches behaupte ich immer, die Sechste über die Fünfte von Tschaikowski zu bevorzugen, dessen bittertrauriges Finale auch ohne Vorschlaghammer eine immense Wirkung erzielt.
Tjeknavorian genoss den Krach zum Schluss offensichtlich, fühlte sich pudelwohl auf dem Podium. Es war erstaunlich zu sehen, wie dieser grundsätzlich sehr ruhige, überlegte Mensch mit geballter Faust und exaltierten Bewegungen immer mehr und immer mehr Leidenschaft vom Orchester verlangte. Das Ergebnis war entsprechend, wir blieben baff zurück und antworteten mit viel Jubel. Der absolut verdient war, diese Interpretation war ein beeindruckendes Empfehlungsschreiben an die großen (Wiener) Orchester.