Memoria - Sehnsucht nach der Stille
Apichatpong Weerasethakul setzt seine spezifische Handschrift in seinem ersten Film außerhalb Thailands gekonnt um und attackiert die eigene Ruhe mit einem lauten Knall.
Es gibt da einen Film, der mich in der ersten Hälfte des Jahres besonders bewegt hat. Ich war vor einigen Monaten lediglich daran interessiert, ein paar Filme als mögliche Untersuchungsobjekte für eine Hausarbeit zu sichten und entschied mich eines Abends kurzerhand für Uncle Boonmee erinnert sich an seine früheren Leben. Schon in den ersten Minuten wurde ich durch die wunderschönen Landschaften, das atmosphärische Sounddesign und die überwältigende Ruhe dieses thailändischen Werkes in den Bann gezogen. Im Laufe des Filmes kam dann noch eine erfrischend unaufgeregte Auseinandersetzung über Leben und Tod dazu. Ich war überwältigt. Nun hat der Regisseur Apichatpong Weerasethakul (Cemetery of Splendour, Tropical Malady), der mich zu jenem Zeitpunkt so berührte, sein neustes Werk veröffentlicht: Memoria. Es handelt sich hier um seine erste Produktion außerhalb Thailands, da er aufgrund der Machtübernahme des thailändischen Militärs 2014 keine Möglichkeit für sich sieht, dort angemessen filmisch aktiv zu sein.
Wir befinden uns als Konsequenz also dieses Mal in Bogota, der Hauptstadt Kolumbiens. Die ruhige Schottin Jessica (Tilda Swinton) besucht hier ihre kranke Schwester Karen (Agnes Brekke). Während ihres Aufenthaltes in Südamerika wird sie von einem lauten, erschreckenden Geräusch geplagt, das sie immer wieder heimsucht. Sie begibt sich auf die Suche nach dem Ursprung von diesem und trifft auf viele interessante Personen, die ihr interessante Weisheiten und Einsichten vermitteln. Das zentrale Thema ist diesmal, wie der Titel schon verrät, die Erinnerung, die vielseitig durch auditive wie visuelle Einfälle sowie interessante Gespräche und Auseinandersetzungen mit Museen und Archäologie verhandelt wird.
Immer mit der Ruhe
Der Stil entspricht zunächst einmal sehr genau den Merkmalen von Weerasethakul. Dieser wird oft mit dem Begriff des Slow Cinemas verbunden, einer minimalistischen, extrem langsamen und eher auf Stimmungen und ruhiger Observation beruhenden Stilart des Kunstkinos. Die Einstellungen dauern mehrere Minuten lang und laden uns zu einer genauen Observation der Räume ein, die nur selten von Schnitten unterbrochen werden. Es herrscht extreme Stille, selbst das Verrücken eines Stuhles wirkt hier im Kontrast schon wie eine ohrenbetäubende Explosion. Die Kamera ist meist starr, eine einfache Bewegung von dieser gleicht einem Gewitter auf die Sinne. Zudem bewahrt sie fast immer eine große räumliche Distanz zu den Figuren. Meist sehen wir diese in Totalen oder gar Supertotalen, wie sie als kleine Wesen in der kühlen, kantigen Architektur oder den weiten kolumbianischen Landschaften stehen. Besagte Figuren bewegen sich hier auch kaum, meist stehen oder sitzen sie lethargisch in einer meditativen Trance irgendwo in der Leinwand. Wirklich alles wirkt distanziert.
Diese ganze Stilistik lädt klar zum Träumen und zur filmischen Meditation ein. Wir können uns in den schwelgerischen Bildern verlieren oder die Leinwand mit unseren eigenen Gedanken füllen. Gerade das sehr gelungene Verhältnis zwischen auditiven und visuellen Bildern bietet viel Platz zur eigenen Visualisierung der Geschichte. Doch es kann durchaus zu einer nicht zu unterschätzenden Irritation des Publikums kommen. Minutenlange Stille (bei höchstens leisem Grundrauschen) mit einer Konzentration auf einzelne lange Einstellungen der kolumbianischen Natur haben auch auf der diesjährigen Viennale einige Besucher*innen zum vorzeitigen Ausstieg aus Weerasethakuls meditativem Traum bewegt. Zum Beispiel meine Nebensitzerin…
Angriff auf den eigenen Stil
Der Regisseur übernimmt jedoch nicht einfach direkt den Stil seiner anderen Filme. In diesem neuen Werk des ruhigen Meisters kommt es nämlich zu einem interessanten Angriff auf die stille Ausgeglichenheit, die sonst bei ihm so prägnant im Mittelpunkt steht. Die erste Szene beginnt ganz typisch. Tilda Swinton liegt lange in einer einzelnen Einstellung im Bett und es herrscht absolute Ruhe. Doch dann wird unsere Trance schlagartig durch den lauten Knall unterbrochen, der die Protagonistin so plagt. Wir übernehmen hier ein bisschen ihre Rolle. Unsere Ruhe, auf die wir uns eingestellt haben und die der Film uns über den allergrößten Teil seiner Laufzeit auch zuspricht, wird uns nicht uneingeschränkt gegönnt. Ich kann garantieren, dass ich nicht der Einzige im Stadtkino war, der hier kurz aufzuckte. Wir haben also wie Swintons Figur ein wenig das Interesse, diesen Störfaktor loszuwerden und wieder ungestört in den traumhaften Bildern schwelgen zu können. Dieser auditive Konflikt geschieht übrigens nicht nur über besagtes Geräusch, sondern zudem beispielsweise zusätzlich in der wirkungsvollen Verknüpfung einer stillen Szene mit einer wilden Rockdarbietung.
Auch sonst unterscheidet sich der Film in einigen Punkten vom restlichen Werk des Regisseurs. Das Setting in Bogota ist zunächst einmal erstaunlich urban. Wie bewegen uns in Soundstudios, fabrikartigen Gebäuden und Museen, was ungewöhnlich für den sonst sehr ländlich orientierten Filmemacher ist – manchmal ist die Kamera hier sogar in greifbarer Nähe zu den Figuren und (schnallt euch an!) es kommt hierbei sogar vereinzelt zu einem leichten Wackeln der Kamera, die jene Figuren in einer Bewegung (!) verfolgt. Zudem ist der Einsatz professioneller Schauspieler*innen eine Neuerung für Weerasethakul, der eigentlich für den Einsatz von Laiendarsteller*innen berüchtigt ist. Die Sprache – hier Spanisch und Englisch – unterscheidet sich natürlich auch von seinen anderen Werken.
Doch ungeachtet der kleinen Änderungen und dem Länderwechsel bleibt sich der Regisseur trotz der kleinen Angriffe auf den eigenen Stil weitgehend treu. Neben der anfangs beschriebenen SlowCinema-Mittel ist für unser westliches Auge zum Beispiel eine sehr große Überschneidung zwischen der Ästhetik der Regenwälder Thailands und Kolumbiens zu erkennen. Dieser ist hier besonders schön, wenn wir ihn als nebelige Unendlichkeit sehen, die wie ein Ozean nicht am Horizont enden will.
Fazit
Memoria ist ganz klar ein fordernder Film. Er ist extrem langsam und still, da sollte man schon wissen, worauf man sich einlässt. Wer sich dem Werk jedoch aufgeschlossen stellt, durchlebt eine sehr schöne Filmerfahrung. Weerasethakul hat es geschafft, seinen Stil ohne Verluste auf einen internationalen Rahmen zu übertragen. Etwas, was nicht allen so mühelos gelingt – I’m looking at you, Sion Sono. Dabei schafft er es auch noch, seine typische Handschrift etwas zu lockern und sogar an vielen Stellen herauszufordern. Memoria mag zwar vielleicht nicht ganz die absolute Schönheit und spirituelle Tiefe von Uncle Boonmee erreichen – da entspricht jener Film dem Marianengraben - aber es handelt sich allemal um ein wundervolles Werk, an das man sich erinnern wird. Ein meditativer Traum!