Hallo Vergangenheit? Hier spricht die Gegenwart

Frank Castorf in St. Pölten: Bejubelte Uraufführung von Schwarzes Meer mit einer sensationellen Hauptdarstellerin.

Julia Kreusch als Eleftheria /// Alexi Pelekanos (c)

Der künstlerischen Leiterin des Landestheater NÖ, Marie Rötzer, ist mit diesem Abend ein echter Coup gelungen. Schwarzes Meer ist das Debütstück der Autorin und Schauspielerin Irina Kastrinidis. Es geht um eine junge Schriftstellerin Eleftheria (griechisch: Freiheit), die sich auf die Spuren ihrer familiären Vergangenheit begibt. Deren Vorfahren waren Pontos-Griechen am Schwarzen Meer, die 1923 im Zuge des Bevölkerungsaustausches zwischen Griechenland und der Türkei ihre Heimat verlassen mussten. Im Zentrum steht allerdings eine Liebesgeschichte zwischen Elefetheria (Julia Kreusch) und Achilleas, die das Durchleben einer absolut nachvollziehbaren Beziehung ermöglicht. Immer wieder blitzten im Text auch Verweise auf griechische Mythen auf.

Dicht, assoziativ, abstrakt und konkret

Die Sprache der Autorin ist dicht, assoziativ, abstrakt und konkret zugleich, schafft Bilder im Kopf und bringt Dramatik auf die Bühne. Kastrinidis’ Text ist eine ständige Überlappung der verschiedenen Erzählstränge, die am Schluss in einer äußerst packenden und detaillierten Schilderung über das Elend der vertriebenen Menschen zusammengeführt werden.

Frank Castorf stemmt sich mithilfe des sehr reduzierten, aber genialen Bühnenbildes von Aleksandar Denic gegen das Vergessen dieses bis dato ungesühnten Völkermordes. Berge von Papier werden bemalt, bekritzelt, beschmiert. Mit roter Farbe – oder ist es Blut? Die Notizen über das Leid werden verbrannt, zerrissen sowie verschluckt - und haben sich am Ende, wenn der Kasperle nach seinem Publikum sucht, doch in den Geist der atemlos staunenden Menschen im Zuschauerraum gebrannt. 

Tonnenweise Tränen. Woran verdursten wir dann?

Castorf beweist, wie politisch, wie aktuell und wie immer wieder gültig Theater sein kann - und ist gleichzeitig selbstironischer Infragesteller seiner eigenen Inszenierung.... “das wird hier noch ewig dauern.“ Meisterhaft collagiert und dramaturgisch sehr intelligent und wirkungsvoll inszeniert er die Fluten an Text. Die originellen Kostüme kreierte Adriana Braga Peretzki. Auf das sehr ästhetische Live-Video (Martin Andersson, Kamera: Martin Kerschbaum) muss man an diesem Abend fast zwei Stunden warten, ehe es mit voller Wucht seine Wirkung entfacht.

Live Video zum Schluss /// Alexi Pelekanos (c)

Julia Kreusch vermag es an diesem Abend, ohne jemals die Spannung zu verlieren, fast drei Stunden lang ohne Pause durchgehend körperliche und schauspielerische Höchstleistungen abzuliefern. In einer Szene taucht sie ihren Kopf mehrmalig hintereinander in einen riesigen Kübel und spricht den Text quasi gurgelnd unter Wasser. Das Stück ist an sich als Monolog geschrieben und Kreusch interpretiert ihn phänomenal. Ihr Spiel ist authentisch, traumatisiert, manchmal liebenswert naiv und offen.

Zwölfjähriger Erbprinz auf der Bühne

Mikis Kastrinidis (gemeinsamer Sohn der Autorin und des Regisseurs) ist zwölf Jahre jung und spielt sich mit voller Energie die Seele aus dem Leib. Herrlich, wie er trotzig ein volles Glas Rotwein mit hinter die Bühne nimmt. Später, wenn Eleftheria über Griechenland spricht, zerrt er eine entzückende Ziege auf die Bühne. Julia Kreusch schmeißt sich auf den Boden und spricht den folgenden Text meckernd wie ihr Kollege, die Ziege Peter.

Mikis Kastrinidis mit Ziege /// Alexi Pelekanos (c)

Auch der Regieassistent Sebastian Schimböck tritt auf und verkündet mit Augenzwinkern seine Anwartschaft auf den Posten des Theaterdirektors in St. Pölten. Castorf lässt keine seiner Metaebenen aus. Des öfteren ruft die Autorin „selbst“ am Telefon an, um sich über den Stand des auswendig gelernten Textes bei der Schauspielerin zu informieren. Julia erzählt ihr dann am Hörer, wie die Geschichte weiterging. Oder ist es Irina, die Julia etwas erzählt?

Die Uraufführung wurde zu Recht mit überdurchschnittlich langem und begeistertem Applaus aufgenommen.

Hallo Vergangenheit?

Hier spricht die Gegenwart.

Was? Die Zukunft?!

Sebastian Kranners Interview mit Frank Castorf erscheint bald auf Bohema

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