Kunst oder Handwerk?
Das Phänomen Lise Davidsen und die ewige Frage nach der gesellschaftlichen Verantwortung von Künstler*innen: Ein paar Gedanken zur Wiederaufnahme von Tosca an der Staatsoper.
Eine Version dieses Artikels ist in der ‘Presse’ erschienen.
Eine Sängerin und ein Maler stellen sich gegen einen gewaltsamen Polizeistaat: Die gesellschaftliche Courage der beiden Künstler*innen in Puccinis Tosca ist im klassischen Musikbetrieb heutzutage eher selten. Warum sind Künstler*innen anderer Kunstrichtungen so viel aktivistischer unterwegs? Vielleicht, weil klassische Musiker*innen von Kleinkindalter nur zum perfekten Reproduzieren dressiert werden? Ob Reproduktion überhaupt Kunst ist, ist eine andere Frage… Den skrupellos brutalen Polizeichef Scarpia singt bei der aktuellen Wiederaufnahme an der Staatsoper der russische Starbariton Alexey Markov. Er ist einer dieser vielen internationalen Klassikstars, die sich nie zur Politik äußern, gleichzeitig ist er eine Säule von Valery Gergievs Mariinsky Theater in St. Petersburg. Allein im November sang er dort drei verschiedene Rollen, im Oktober war er für ein großes Interview im Staatsfernsehen.
Genießen um jeden Preis?
Scarpia will um jeden Preis „beltà“ und „vini“ genießen. Ist das nicht in etwa das, was ein Currentzis, ein Matsuev oder auch ein Markov möchte, in der Glamour-Welt der vermeintlich unpolitischen Klassik zu jetsetten, auch um den Preis, sich von Putins Gewaltherrschaft instrumentalisieren zu lassen? Alexey Markov sang bei seinem Wiener Rollendebüt zwar einen beeindruckenden Scarpia, das tat er aber als gefeierter Künstler eines Staates, dessen heutigen Scarpias statt Cavaradossi Markovs Namensvetter Nawalny zu Tode folterten.
Eine Wagnerdiva, die auch Italienisch kann
Musikalisch ist die große Story dieser Wiederaufnahme das Rollendebüt Lise Davidsens als Tosca. Eigentlich ist die Norwegerin für ihre Riesenstimme bekannt, mit der sie sonst wagnersche Klangwellen aus dem Graben spielerisch leicht übertönt. Sie als Tosca zu besetzen ist ein wenig, wie mit einem riesigen Mercedes über eine Gokart-Rennbahn zu fahren. Kann das gutgehen? Wien ist die letzte Station dieses Experiments, sie eröffnete mit dieser Rolle die Saison der Lindenoper in Berlin, sang sie dann in München und in New York. Wer auch immer diese merkwürdige Idee hatte, sie aus dem deutschen Fach einfach so ins kalte Puccini-Wasser zu schmeißen, hat hoch gepokert und noch höher gewonnen: Lise Davidsens Tosca ist ein Ereignis, die Standing Ovations zum Schluss waren hochverdient. Sie bändigt ihre üppige Stimme äußerst beeindruckend, erdrückt die Feinheiten nie mit ihrer Stimmmasse. Wenn sie mal doch voll aussingt, ist ihr dunkles Timbre zunächst etwas ungewohnt, doch je verzweifelter und wütender Tosca wird, umso schärfer stimmt Davidsen ihre Stimme. Schauspielerisch bietet sie wenig, das wird in Margarethe Wallmanns allseits geliebter Inszenierung aus 1958 aber auch kaum verlangt.
Freddie de Tommaso, der dritte Rollendebütant, stand auf der ganzen Tosca-Tour an Davidsens Seite und hat dabei entweder ein bisschen zu viel Stimme verbraucht oder war leicht angeschlagen. Seine sonst so strahlende Tenor-Kanone lag jedenfalls einen Hauch unter den Erwartungen, er gab aber alles, was seine Stimme erlaubte. Routinier Pier Giorgio Morandi brachte eine Idealmischung aus Leidenschaft und Kontrolle ans Pult und führte das Staatsopernorchester zu Höchstleistungen.
Cavaradossi oder Scarpia?
So museal diese Inszenierung auch ist (im Guten und im Schlechten), was sie über toxische Männer, über Gewalt, über die unkontrollierten Mächtigen und über die wenigen Mutigen, die dagegen auftreten erzählt, ist immer noch aktuell. Schön wäre, wenn sich die Stars der Musikszene nicht an Scarpia, sondern an den voltairianischen Revolutionär Cavaradossi ein Vorbild nehmen würden. Oder wir verabschieden uns von der Idee, sie als Künstler*innen zu sehen und nennen sie fortan Kunsthandwerker*innen.