Willkommen in Utopia

Musikalisch ein Bombenerfolg, aber wie sieht es mit den brennenden Russland-Fragen aus? Teodor Currentzis mit seinem neuen Orchester ‚Utopia‘ im Konzerthaus.

Teodor Currentzis im Konzerthaus /// Markus Aubrecht (c)

Der altbekannte Straßen-Saxofonist spielte vor dem Konzerthaus die gleiche Melodie, mit dem er jedes Konzert einleitet, das Publikum plauderte, von Protesten keine Spur. Business as usual? Keineswegs. Zum einen, war es das Wiendebüt eines gerade gegründeten Weltklasseorchesters, zum anderen, wurde das Ganze von einer politischen Debatte überschattet. Ja, es geht schon wieder um Currentzis. Wir berichten seit Monaten über die neuesten Entwicklungen dieser komplizierten Geschichte. Wie der Dirigent kurz nach dem Krieg statt mit einem Statement mit einem Konzertprogramm zu kommunizieren versuchte, wie sein Benefizkonzert gecancelt wurde und wie die Kritik an ihm wuchs, wie er in Salzburg trotzdem Stargast war. Hier kommt nun die nächste Episode. Ob ihr sie lesen wollt oder nicht, wenn wir schon so lange dabei waren, müssen wir nolens volens weiter berichten.

Currentzis verkündete erst im August, dass er ein neues Ensemble bildet, das unabhängig finanziert werden soll (konkret ist es eine Stiftung vom Mateschitz und weitere unbekannte europäische Gönner). Sein MusicAeterna-Orchester wird derweil nach wie vor von der sanktionierten VTB-Bank und Gazprom mit Geld versorgt. So wirkte die Gründung von „Utopia“ ein wenig wie ein Versuch, den westlichen Veranstalter*innen einen Ausweg zu bieten. Es sei allerdings schon lange geplant gewesen, in einem Projektorchester gleichgesinnte Spitzenmusiker*innen zu vereinen, betonte Currentzis.

The best of the best united?

In Utopia spielen tatsächlich viele Mitglieder europäischer Spitzenorchester, wie der Staatskapelle Dresden oder des Concertgebouw-Orchesters (es sind auch 11 MusicAeterna-Mitglieder dabei), darunter gleich neun Konzertmeister*innen. So renommiert die Musiker*innen auch sein sollten, die knappe Vorlaufzeit machte doch neugierig, ob die angepeilte Spitzenklasse erreicht wurde. Die Frage danach wurde schon nach Strawinskis Feuervogel-Suite beantwortet: Utopia spielt auf einem Niveau, wozu es als neugeborenes Orchester-Baby eigentlich kein Recht hat.

„Das Genie lässt sich nicht besser analysieren als Elektrizität. Entweder man hat es, oder man hat es nicht. Strawinski hat es“, schrieb Jean Cocteau 1918. Diese Elektrizität hat auch Currentzis, ob er deswegen ein Genie ist, ist eine andere Frage. Er schafft es jedenfalls, aus seinen Orchestern ein tatsächlich elektrisierendes Maximum herauszuholen. Er zeigte das im Sommer mit dem Gustav Mahler Jugendorchester in Salzburg, mit seinem SWR-Orchester und nun auch mit Utopia. Trifft Currentzis auf Musiker*innen, die bereit sind, ihm zu folgen, sorgt er für rauschhafte Erlebnisse.

Etwas eintönig war an diesem Abend das Programm. Nach dem Strawinski folgten mit Ravels „Daphnis et Chloé“ und „La Valse“ zwei weitere Werke aus dem frühen 20. Jahrhundert, die wieder leise und geheimnisvoll begannen, um sich zu einem dröhnenden Finale zu steigern; „Boléro“ als Zugabe folgte dem gleichen Muster. Wenn aber so gnadenlos konsequent auf den letzten Energieausbruch hingespielt wird, wie an diesem Abend, dann hört man sich das gerne auch mehrmals an.

Es ist erstaunlich, was dieses neue Kollektiv in so kurzer Zeit geschafft hat, musikalisch ist Utopia ein voller Erfolg. Die Fragen nach Currentzis bleiben aber. Er tourt im Herbst mit MusicAeterna weiter, sogar nach Deutschland. In Moskau, Baden-Baden und Dortmund sollte er im November Tristan und Isolde spielen, heute wurde verkündet, dass stattdessen Verdis Requiem auf dem Programm steht. Zuvor haben eine Reihe von Sängern ihre Teilnahme abgesagt. Wenige Tage früher lud die Kölner Philharmonie sogar das SWR-Orchester wegen Currentzis aus. Wie lange kommt er noch damit durch, auf russischen Propagandaveranstaltungen wie dem Wirtschaftsforum in St. Petersburg zu spielen und im Westen nur die Musik sprechen zu lassen? Die Forderungen nach einem Statement zum Krieg mögen absurd sein, sie haben jedenfalls gezeigt, dass sich Currentzis Stand jetzt für Russland entscheiden würde. Es hätte anders kommen können, hinter den Kulissen stand es mal kurz vor einem Deal, der ihn mit MusicAeterna an Wien gebunden hätte. Doch statt ihm freut sich gerade Stefan Herheim auf seine erste Premiere als Theater-an-der-Wien-Intendant. Ein angeblich geplanter Umzug von MusicAeterna nach Paris vor dem Krieg scheiterte ebenfalls. Traurig. Es bleibt dabei, dass der Verlust von Currentzis ein großer wäre. Sollen wir ihm aber deswegen um jeden Preis zuhören? I don’t know.

Furtwängler lässt grüßen

Die ganze Sache riecht immer mehr nach der Geschichte mit Wilhelm Furtwängler. Er war der vielleicht berühmteste deutsche Dirigent seiner Zeit und weigerte sich, Nazideutschland zu verlassen, wie das seine Kollegen Bruno Walter (er war als Jude gezwungen) oder Fritz Busch (kein Jude, einfach anständig) taten. Dabei hatte Furtwängler ein Top-Angebot aus New York, er hoffte aber nach eigenen Angaben, die Kunst zu behüten, das schlimmste zu verhindern, oder so. Das endete damit, dass er für Hitler an seinem Geburtstag spielte. Putins 70. fiel gerade auf den Tag des Wiendebüts von Utopia, noch ist es bei Currentzis nicht so weit und ich hoffe, es wird auch nie so weit kommen. Aber seine Möglichkeiten sind im Westen immer begrenzter. Wenn er so weitermacht… Ich bin sicher, Currentzis kennt die Geschichte mit Furtwängler und den Nazis viel besser als ich. Sieht er nicht, dass er drauf und dran ist, sie zu wiederholen?

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