Synths, Samtjacken und Streichquartett
Mit akustischen Instrumenten und urgewaltigen Arrangements spielen Mynth ihren Elektropop im Wiener Konzerthaus mal als Post-Rock-Set, mal als Unplugged-Session.
Der Berio-Saal ist die wohl nobelste Underground-Location Wiens. Während im Großen Saal des Wiener Konzerthauses orchestrale Ensembles und international bekannte Acts auftreten, versammeln sich in der untersten Etage zumeist die Geheimtipps und „nicht-mehr-so-geheimen“ Künstler*innen der österreichischen Musikszene. Zu letzteren zählen jene Zwillinge, die seit 2014 unter dem Namen Mynth Elektropop machen und am 20. Oktober 2021 nach genau drei Jahren erneut ins Haus in der Lothringerstraße einkehrten.
Doch Elektronik ist an diesem Abend nebensächlich. Schillernde Synthesizer und grell flackernde LED-Wände sucht man vergebens. Stattdessen gibt es nur karge Synthflächen und schummrige Beleuchtung. Inmitten von Nebelschwaden betreten die Musiker*innen nach und nach die Bühne. Eine Bassline setzt ein, eine Gitarre wird gezupft, dazu ein schleppender Beat. Es ist wie das Scharfstellen einer Kamera: Es dauert, bis das Bühnengeschehen erst im Fokus ist.
Für Giovanna und Mario Fartacek darf jedes Set gerne ein wenig besonders sein. Daher sind sie an diesem Abend nicht zu zweit, wie bei ihrer Wohnzimmer-Session im ersten Lockdown, sondern ein ganzes Dutzend Musiker*innen. Verstärkung erhalten sie neben ihrer Live-Band von einem instrumentalen Ensemble. In dieser Formation wird aus dem Elektropop-Duo eine Post-Rock-Band.
Von Band- und Felsformationen
Da dürfen Streicher selbstverständlich nicht fehlen! Gekleidet in stylischen grünen Samtjacken nehmen Streichquartett und Blechbläsersektion ihren Platz auf der Bühne ein. Mit ihrer Hilfe werden Songs aus sieben Jahren Mynth-Diskografie in organische Arrangements übersetzt, um der Klangwelt von Shades | Mynth, der jüngsten Platte – und ersten auf Assim Records – zu entsprechen. Dabei fallen diese so rau und naturgewaltig aus wie die Felsformationen auf dem Album-Artwork.
Aufgereiht wie in einem Kinosaal, schaut das Publikum gefesselt dabei zu, wie Giovanna tranceartig über die Bühne gleitet und mit anmutiger Gestik zu jemandem vor ihrem geistigen Auge singt – nicht selten zu sich selbst. Üblicherweise ist ihre dringliche Stimme – die nicht von irgendwo her mit jener von Kate Bush verglichen wird – wie ein Leuchtfeuer auf hoher See. Bei diesem Set wird sie allerdings immer wieder in der musikalischen Gischt ihrer Bandkolleg*innen verhüllt und die Lyrics verschwimmen. Manchmal zieht sich ihre Stimme wiederum gänzlich in die Tiefen zurück und gibt den Raum für stürmische Streichereinlagen und den Walgesang der Blechbläser*innen frei. Die Atmosphäre wird stets von Marios Akustikgitarre geerdet, die inmitten der überbordenden Klanglandschaften greifbare Akkordfolgen erzeugt.
Trotz all der Dunstigkeit gibt es Momente der Klarheit. Zum Beispiel, wenn Günther Paulitsch vom Schlagzeug auf den Flügel wechselt und Giovannas kristallinen Gesang am Klavier begleitet. Oder wenn Giovanna den Song Casablanca jenen Zuhörer*innen widmet, die jemanden vermissen, und damit ihre eigenen Verluste ergreifend zum Ausdruck bringt. Immer wieder schleicht sich Marios Kopfstimme ein, um mit jener seiner Schwester zu harmonieren.
Chemie auf dem Höhepunkt
Die Chemie zwischen den beiden erreicht schließlich ihren Höhepunkt, nachdem das Publikum für eine Zugabe den Boden zum Beben bringt. Es kehren lediglich die Fartacek-Zwillinge auf die Bühne zurück und geben mit Meander und I’m Good zwei ihrer schönsten Songs in spärlich-akustischer Form zum Besten, bevor sie in voller Besetzung das Finale anstimmen. Wenn das Ganze für Kammermusik eine Spur zu groß klingt, dann ist es eben Schatzkammermusik.