Der Nobelpreis und Die Kunst, Nein zu sagen

Han Kangs Prosa zeigt die Kraft weiblicher Selbstbestimmung auf 190 Seiten und wie das Männern und der Gesellschaft Angst macht. 2024 geht der Literaturnobelpreis erstmalig nach Südkorea von Eva-Maria Yasin und Stephanie Madeleine Grechenig.

Die erste asiatische Nobelpreisträgerin

Dieses Jahr ging der Nobelpreis für Literatur erstmals nach Südkorea und erstmals an eine asiatische Autorin: an Han Kang-

für ihre intensive poetische Prosa, die sich mit historischen Traumata auseinandersetzt und die Zerbrechlichkeit des menschlichen Lebens offenlegt

so die Begründung der schwedischen Akademie

Mit dieser erfreulichen Nachricht entfesselte sich gleichzeitig unsere Neugier und Lust, mehr über Han Kang zu erfahren und in ihr Werk hineinzulesen. Und natürlich möchten wir uns selbst eine Meinung über die Entscheidung des schwedischen Komitees verschaffen. Dies ist auch der Grund des folgenden Artikels, in dem wir Eva und Stephanie über Hang Kang als Person und über ihr wohl bekanntestes Buch 채식주의자 (Die Vegetarierin) schreiben werden.

Eva: Who is Han Kang

Han Kang wurde als Tochter des Schriftstellers Han Seung-won in Gwangju, Südkorea 1970 geboren. Sie studierte an der Yonsei University in Seoul Koreanische Literatur und graduierte dort im Jahr 1993. Im selben Jahr debütierte sie als Dichterin, ihr erster Roman erschien 1994. Zurzeit lehrt sie kreatives Schreiben am Kulturinstitut Seoul. 2024 wurde ihr der Literaturnobelpreis verliehen.

Stephanie: Die irre Vegetarierin

Eines willkürlichen Tages entscheidet sich die Protagonistin, auf Fleischgerichte zu verzichten. Geleitet von Traumvorstellungen folgt sie von nun an ihrem eigenen Willen und widersetzt sich dem Einhalten von Konventionen eines idealen Frauenbildes. Erstaunlicherweise löst dies Entsetzen aus und wirft Fragen auf, ob ihre Ratio nicht einen kleinen Riss in ihrer Vollständigkeit erlitt. Die ständigen Aufforderungen, wieder zur mit Blut getränkten Gabel zu greifen, erstrecken sich durch die ganzen 190 Seiten hindurch und lassen die Vegetarierin quasi als Irre dastehen.

Stephanie: Der österreichische Vegetarier

Lassen wir dieses Szenario in einem uns vertrauten hiesigen Raum abspielen. Niklas – 22 - männlich J, aufgewachsen in Österreich, Schwechat, spielt gerne Fußball und entscheidet sich von heute an vegan zu leben. 

Es folgen 100 verpasste Anrufe von Mama und leere Teller bei Oma und Opa. Verwunderung auch seitens seines Fußballteams und alle fürchten baldigen Eiweißmangel. Von jetzt an werden Niklas Essgewohnheiten wie ein Muttermal auf der Oberlippe ein ständiger Begleiter in seinem Leben sein. Wo Niklas seine Männlichkeit von nun an verteidigen muss, muss Han Kangs Protagonisten etwas viel Größeres verteidigen: Ihre Menschlichkeit. Nach und nach verhält sie sich immer mehr wie eine Pflanze und wird von ihrem Umfeld auch so wahrgenommen. Was bleibt, ist ein magerer, pflanzenähnlicher Körper und eine Seele ohne Bezug zur Umwelt.

Eva: Spoileralarm, die Vegetarierin

Yong-Hye lebt mit ihrem Ehemann in Südkorea. Sie ist eine stille, zurückhaltende und eher unscheinbare Frau, was ihrem Mann sehr recht ist, denn deshalb hat er sie schließlich geheiratet.

Eine Liebesheirat war es definitiv nicht. Er wollte eine Frau, für die er keine intellektuellen Hochleistungen vollbringen musste. Ihr Mangel an Ausstrahlung kam ihm sehr gelegen, konnte sie so auch nichts von ihm erwarten. Sie hatte ja auch nichts zu bieten. Herausforderungen hat er noch nie gemocht und umgab sich schon in seiner Kindheit gerne mit Kindern, die jünger waren als er selbst, damit er den Chef spielen konnte. An der Uni führte er sein Verhalten fort, indem er eine Universität wählte, die unter seinem Niveau lag. So konnte er problemlos besser sein als andere, ohne sich anstrengen zu müssen. Daher ist er bei der Wahl seiner Gattin nur konsequent. Yong-Hye redet nicht viel, schimpft nie, wenn er sehr spät nach Hause kommt und bedrängt ihn nicht damit, dass sie auch einmal ausgehen möchte. Für ihn entspricht dies der Vorstellung einer idealen Ehefrau. Bis zu dem Zeitpunkt, als er seine Frau eines Nachts in der Küche inmitten des Kühlschrankinhalts vorfindet und sie damit beginnt, alles in den Müll zu werfen. Auf die Frage hin, was das solle, antwortet sie nur: „Ich hatte einen Traum.“ Das ist an sich keine bemerkenswerte Sache, doch in diesem Falle ist dieser Traum das zentrale Ereignis im Leben der beiden, denn Yong-Hye wirft alles weg, was tierischen Ursprungs ist: Sie ist Vegetarierin geworden. Eine sehr konsequente Vegetarierin, denn sie weigert sich fortan auch mit tierischen Produkten zu kochen, was ihrem Gatten, der es gewohnt ist, alles zu bekommen, was er möchte, große Probleme bereitet. Auch beginnen sich die Machtverhältnisse im Hause zu verschieben – doch das ist erst der Anfang.

Stephanie: Zeitgemäß, wichtig und richtig

Während meiner Recherche bin ich auf eine Rezension des Burgtheaters gestoßen. Jene Institution, die das Buch Die Vegetarierin wie folgt beschreibt. Ich zitiere: „Die preisgekrönte südkoreanische Autorin Han Kang thematisiert in ihrem Roman Fragen nach (Selbst-)Kontrolle, Patriarchat und weiblichem Widerstand.“ (Burgtheater, Website, Spielplan)  

Die Vegetarierin erschien 2016. Ein Jahr zuvor war Südkorea im Gender-Gap Report auf Platz 118 in Bezug auf die Gleichstellung der Geschlechter gereiht worden. Gleichzeitig wurden Skandale aufgedeckt: Pornoseiten veröffentlichten jahrelang Videos von Frauen, die mit versteckter Kamera gefilmt wurden. Statistiken zeigten, dass 80 Prozent der Frauen schon einmal Opfer sexueller Belästigung am Arbeitsplatz waren. Dass das Land nach wie vor von strengen Hierarchien und einem falschen Frauenbild geprägt ist, ist nicht neu. Dort, wo K-Pop-Stars ein Frauenideal projizieren, das unerreichbar scheint. So lässt sich Han Kangs Arbeit als Antwort auf die schrecklichen Verhältnisse verstehen, denen südkoreanische Frauen leider nach wie vor ausgeliefert sind.

„She's a good woman, he thought. The kind of woman whose goodness is oppressive.“

Ein Ruf nach Selbstbestimmung und ja, da stimme ich dem Burgtheater zu, Selbstkontrolle wird in Han Kangs großartigem Roman hörbar. Ein Appell, der aktueller nicht sein könnte und zum Glück die Augen dieser Welt nicht nur auf westliche Missstände richtet.

 Unsere Meinung

Han Kang ist mit diesem Buch ein Knaller gelungen. Auf den Punkt formuliert, schnörkellos und mit unglaublichen Ideen wartet sie hier auf. Nie weiß man, wo die Reise hingehen wird und ist verblüfft darüber, auf welch großen Ideenschatz die Autorin auf nur 190 Seiten zurückgreift.

Vielen Dank für eure Aufmerksamkeit!


P.S.: Kleiner Tipp am Rande: Das Akademietheater zeigt ab dem 09.05.2025 Die Vegetarierin in der Inszenierung von Marie Schleef. https://www.burgtheater.at/produktionen/die-vegetarierin

Bohema Bohemowski

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