Regietheater am Klavier

Was Lang Langs Goldbergvariationen mit Nordkorea und Zuckerwatte zu tun haben sowie ein Wunderrezept gegen Alltagsstress und alle anderen Probleme des Erwachsenwerdens.

Gaaaanz ganz viel Gefühl /// Deutsche Grammophon, Olaf Heine (c)

Klaviersuperstar Lang Lang zu haten war mal die Pflicht eines jeden Klassiksnobs, bis es in den letzten Jahren ein wenig ruhiger um den Chinesen wurde. Jetzt, da ich meine Gedanken zu seinem gestrigen Goldberg-Abend im Konzerthaus sammle, fühle ich mich aber an die Klassiknerds und ihre Abneigung erinnert (wir hatten sogar mal einen Essay darüber veröffentlicht), da ich die wenigen Konzertgänger*innen, die das Konzert frühzeitig verließen, ausnahmsweise recht gut verstand. Mich konnte er auch nicht so richtig überzeugen. Und doch möchte ich keineswegs als elitärer Lang-Lang-Hasser rüberkommen. Auf geht’s also auf diese kleine Gratwanderung!

Der Abend drehte sich ganz um die berühmten Goldbergvariationen, davor spielte Lang Lang aber erst Schumanns Arabeske. Mit seinem ultrafeinen Anschlag und einer sehr, sehr freien Attitüde. Er kam zwischendurch fast ganz zum Stillstand, betonte plötzlich eine sonst unhörbare Mittelstimme, verzögerte so stark, dass das Stück eine ganz neue Erscheinung erhielt. Ich bekam schon da ein etwas mulmiges Gefühl, was er wohl mit meinen geliebten Goldbergvariationen vorhatte.

Freedom, oh freedom

Einiges. Schon in der Aria sparte er nicht mit Ritartandi und romantischen Schwellern. Hat eine gewisse Konsequenz, muss ich zugeben. Wenn man schon einen modernen Flügel benutzt, warum dann nicht auch dessen Möglichkeiten? Ich finde sowieso schade, dass zum Beispiel Bachs Klavierkonzerte heutzutage so wenig gespielt werden. Hauptsächlich, da sich Pianist*innen schämen, in Zeiten der boomenden historischen Aufführungspraxis auf einem Steinway Bach zu spielen. Wäre zumindest meine Erklärung. Die Solostücke halten sich besser, auch junge Pianist*innen wie Daniil Trifonov wagen sich noch dran. Immerhin. Ich liebe Cembali, sie füllen aber unsere Konzertsäle nur schwer, weder mit Klang noch mit Publikum. Also von mir gerne auch Bach auf dem Flügel. Aber Lang Langs Freiheiten waren mir zu viel.

Mich erinnerte seine Interpretation ans Regietheater. Also an Opern, die von irgendeinem Starregisseur so gnadenlos von seinen Alpträumen ertränkt wird, sodass man das Werk selbst dahinter nur noch vermutet. Böse formuliert... Nun ist natürlich jede noch so zahme Inszenierung, jede noch so krampfhaft werktreue Interpretation schon eine Deutung des Werks. Und zugegebenermaßen kann einen auch die hochnäsige Wichtigtuerei mancher Originalklangextremisten nerven. Wir werden sowieso nie wissen, wie Musik vor Jahrhunderten wirklich klang. Aber irgendwo gibt es doch eine gesunde Mitte, und diese verfehlte Lang Lang meist für meinen Geschmack.

Aber die nachdenkliche 13. Variation gefiel mir zum Beispiel ganz gut in seiner ach so weichen Interpretation. Dieser mysteriöse Schluss (welche bekloppte Kirchentonart ist das nun?) saß bei ihm. Sein teilweise überirdisch weicher Touch zeichnet ihn wirklich als Weltklassepianisten aus. Ich glaube, es ist aber auch dieser Anschlag (fast eher ein Anstreicheln), der seine Musik irgendwie extrasüß schmecken lässt, wie rosarote Zuckerwatte. Die schon erwähnten romantischen Stilmittel (Ritartandi und Schweller) helfen da auch maßgeblich mit.

Mein Wunderrezept gegen alles (funktioniert!)

Bachs göttliche Musik lebt aus der wunderschönen, komplexen Struktur. Ich glaube, diese Struktur zu hören, ordnet einen, gibt halt im Leben. Eines meiner besten Rezepte gegen Straucheln im Alltagstrubel war immer schon, im dunklen Zimmer auf dem Teppich zu liegen und die Variationen zumindest zur Hälfte anzuhören. Am besten mit Cembalo. Die Struktur ging bei Lang Lang leider oft etwas unter. Die schnellen Läufe der 14. Variation beispielsweise kamen nicht klar genug raus. Auf der Aufnahme ist das noch deutlich besser. Bei der Nr. 26 hört man auch in der Aufnahme ganz gut, was ich meine.

Gut fand ich aber, dass Lang Lang bei manchen Variationen (zum Beispiel bei der Ouvertüre im französischen Stil oder bei Nr. 29 kurz vor Schluss) Spaß am Krach hatte und den Herren hinter mir immer wieder aufwachen ließ. Auch ich war darauf nach meinem musikalischen Grazausflug angewiesen.

Applaus wie in Nordkorea

Als zum Schluss die Aria nochmal erklang, fühlte sich das an, wie eine Rückkehr in die Heimat nach einer langen Reise. Dieses Werk wirkte trotz meiner stilistischen Unzufriedenheiten stark. Der Applaus zum Schluss war dann recht seltsam: Der vollgepackte Saal (sogar auf der Bühne saß Publikum, dabei waren die Preise mit bis zu 180 € ungewöhnlich teuer) stand fast gleich für Standing Ovations auf, und zwar quasi synchron. So geordnet stelle ich mir den Applaus auf nordkoreanischen Parteitagen vor...

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Lärm. Im wahrsten Sinne des Wortes.