The Leipzig Years — Kapitel 10
ZEHN
Elena Debachinsky © für Bohema
Im Februar ziehen wir um. Das ist in drei Monaten.
Der Sommer ist gegangen, wie er gekommen ist: Einfach so.
Es fällt mir schwer zu glauben, dass das mein letzter Winter in Leipzig sein wird, es fällt mir schwer zu glauben, dass ich die Winter der letzten Jahre in Leipzig nicht mochte, was heißt nicht mochte, dass ich sie gehasst habe, dass ich ein depressives Wrack war, dass mich jedes Jahr, spätestens ab November Selbstzweifel zerfressen haben, es fällt mir schwer zu glauben, dass ich diese Stadt wirklich verlassen werde, all das verlassen, was mir die letzten Jahre Heimat war. Auch wenn ich es nicht immer so bezeichnet habe.
Es ist 15 Uhr, die letzten Sommerstrahlen, des ersten schönen Tages seit zwei Wochen verschwinden so langsam hinter den Häusern und ich lauf durch das Rabet, hör Tocotronic, die neue Platte “Nie wieder Krieg” prägt meine letzte Leipzigzeit.
Ich habe meinen Mantel an, den Mantel, den ich im Sommer letztes Jahr, mit Stan und Dirk in Vohenstrauß in Bayern gekauft habe, Dirk hat dort ausgestellt und wir haben uns betrunken, zu Dirks Gemälde Rede und Antwort gestanden, aber eigentlich wurde nicht viel gefragt, also sind wir eher nur gestanden und dann haben wir uns drei Mäntel gekauft. Die darauf folgenden Runden durch den Park liefen wir ausschließlich in diesen Mänteln, die Kragen hochgeklappt, Zigaretten in der Hand, wie als würden wir etwas aushecken oder als würden wir aufdecken, was andere aushecken, wie als wären wir Teil einer Jugendbewegung, wie bei Tocotronic, genau wie bei Tocotronic, oder eher nur einer Bewegung, ohne Jugend, weil die, die ist vergangen.
Ach was, eigentlich ist Jugend ja ne Lebenseinstellung und kein Alter. Dirk von Tocotronic schreibt in seinem Buch, ‘’Aus dem Dachsbau’,’ ja auch, seit er älter ist, findet er, er sieht aus wie ein Dachs. Trotzdem singt er das mit der Jugendbewegung auf allen Bühnen dieses Landes. Und ich, das darf man schon nicht unter den Tisch kehren, ich habe noch gar nichts von einem Dachs. Von einem Maulwurf manchmal, aber nichts von einem Dachs.
Ich weiß noch ganz genau wie wir mit unseren Mänteln durch den Park liefen, Lou wollte uns auf der anderen Seite treffen und kam dann einfach mit einer dicken schwarzen Daunenjacke und ist komplett durchs Raster gefallen und wir mussten alle lachen und wir haben alle von uns zuhause nur fünf Minuten zu Fuß gebraucht um uns im Park zu treffen. Von Wien aus brauch ich laut Google Maps 107 Stunden, das ist 106 Stunden und 55 Minuten länger als jetzt.
Jetzt lauf ich wieder in Richtung Park, Mantelkragen hochgeklappt, Zigarette in der Hand, aber alleine, ich bin auf dem Weg zu Sara, ja, Sara, Felipe und sie sind nicht mehr und wie es aussieht, sind jetzt Sara und ich.
Eigentlich sollte das ja nicht so sein, sie eine der besten Freundinnen von Hanna, ich keine Lust mich in Hannas Umfeld aufzuhalten, keine Lust was mit jemandem zu haben und vor allem keine Lust, mein Glück in fremde Hände zu legen. Aber das werde ich nicht mehr tun. Ich hab gelernt. Meine Probleme sind meine Probleme und Lösungen finde ich nur in mir, in niemand anderem. Die Suche nach Lösungen in anderen Personen hat schon immer zu nur noch mehr Problemen in meinem Leben geführt, also, Glück gehört nur in meine Hände. Das es eigentlich nicht sein sollte, ist im Übrigen auch völlig egal. Nichts ist mehr, so wie eigentlich!
Immer noch nicht.
Elena Debachinsky © für Bohema
Bevor ich in den Park komme, nicke ich unauffällig dem Typen mit der grünen Bomberjacke und den schulterlangen blonden Haaren zu, dann reiche ich Tom im Vorbeigehen ne Kippe und dann muss ich, wie schon so oft, die Eisenbahnstraße überqueren und so oft habe ich sie gehasst, ihren Schmutz, ihre Lautstärke, ihren Gestank und jetzt, jetzt fällt mir auf, was für einen wichtigen Anteil sie an meinem Leben hat, mit ihren Kneipen, ihren Cafes und ihrer stinkenden Freiheit.
2019 wurde auf der Eisenbahnstraße gebaut, da haben sie die ganze Kreuzung bei der Hermann-Liebmann-Straße gesperrt. Den ganzen Sommer saßen wir (mit wir meine ich alle Menschen, die im Leipziger Osten wohnen) auf der Straße, haben Bier getrunken, aus den Fenstern im ersten Stock der anliegenden Häuser kam laute Musik. Ich habe mich in Deutschland nie wieder so sehr wie in Spanien gefühlt. Der beste Tag war, da saßen wir ausnahmsweise nicht auf der Straße, sondern am Späti, da kamen so Typen vorbei, die einen Fußball dabei hatten. Wir haben ihnen zugerufen, sie uns den Ball zugespielt und dann haben wir Fußball an einem Sommerabend auf der gesperrten Eisenbahnstraße gespielt, während überall Menschen rumsaßen, laute Musik aus den Fenstern kam und das Leben für einen Augenblick komplett so war, wie ich es mir wünsche.
Elena Debachinsky © für Bohema
Am Ende des Parks steht ein Baum, ein Baum, mit einem tief hängenden Ast, ungefähr 170 cm über dem Boden, zieht er sich lang und gerade und lädt zum darauf sitzen ein, was ich natürlich auch gemacht habe. Wir haben irgendeine Party gefeiert. Ich weiß wirklich nicht mehr was an diesem Tag los war, aber alle waren im Park, 40 Leute oder mehr, der engste Kreis, der weitere Kreis, die Mitbewohner von Salma, Phil Maler aus Berlin, alle waren da und alle haben gefeiert was es eben zu feiern gab und ich bin auf dem Baum geklettert, neun Bier hatte ich im Schädel. Hanna stand unten und wollte auch hoch, ich wollte sie hochziehen, aber, wie gesagt, ich hatte ja neun Bier im Schädel, also bin ich von ihrer Hand abgerutscht und nach hinten gekippt, wie ein Sack, einfach gefallen, ohne mich zu wehren, einfach auf den Boden gefallen. Hanna hat sofort gelacht, nicht geschaut, ob ich vielleicht tot bin, sie hat einfach sofort gelacht, sich dann über mich gebeugt und ich hab auch gelacht und dann haben wir uns geküsst und sind nicht mehr auf dem Baum, sondern irgendwann dann zusammen nach Hause.
Daran muss ich jetzt gerade denken, als ich den Baum sehe und es macht mich nicht traurig, nur emotional, aber auf die gute Art und Weise, ich wär schon echt nicht so am Arsch gewesen, wenn es nicht auch verdammt schön gewesen wäre, da kann man sich schon auch mal drüber freuen, oder nicht?
Seit ich aus Italien wieder gekommen bin, liebe ich Leipzig. Das ist aber auch klar. Leipzig hatte ja nie ein Gegenwartsproblem. Ich mochte die Räusche für den Moment, mochte den Hedonismus für den Moment, klar, Hanna hat mir zugesetzt, aber das hätte überall passieren können, das lag nicht an Leipzig, das lag an uns, an falschen Erwartungen, falschen Versprechungen, das lag an Liebe, das lag an Rock n’Roll.
Ne, an Rock n‘Roll lags nicht, ich habe einen Moment gedacht, das klänge vielleicht gut, aber, ne, ne das klingt es nicht.
In der Gegenwart war alles irgendwie in Ordnung, jeden Tag für sich gesehen. Auf die Dauer aber, hat mich die Ausweglosigkeit zerstört, die Ziellosigkeit, ich bin nicht herausgekommen aus dem Herumtreiben und das hat mir so verdammt große Angst gemacht, Angst vor dem, was kommen wird. Jetzt, wo ich weiß, dass nichts kommen wird, zumindest mal nicht hier, jetzt habe ich keine Angst mehr, jetzt genieße ich Leipzig, Leipzig in seiner reinen Gegenwart, ohne jede Zukunft, ohne jede Angst.
Kurz bevor ich bei Sara bin, laufe ich an der ‘’Schanze” vorbei.
Die ‘’Schanze’’, im Erdgeschoss, nein im Hochparterre, mit ihren drei Zimmern zur Straße raus, ihrem Wohnzimmer nach hinten raus, das Wohnzimmer, mit den beiden Sofas gegenüber voneinander, dazwischen ein Ikeatisch, der höchstwahrscheinlich, noch vor dem iPhone, das meistverkaufte Produkt weltweit ist, dann der hässlichen Billigküche direkt angrenzend ans Wohnzimmer, mit der improvisierten Trennung bestehend aus einer Holzplatte die auf leeren Bierkästen stand, unter dieser ein immer viel zu voller Mülleimer, mit Blick raus auf den Hof, der kein Hof war, sondern Betonstreifen neben Mülltonnen, aber wir haben ihn genutzt, ein aufblasbares Planschbecken hatten wir dort, leider die kleinste Größe, die für Babys, alles andere war zu teuer, aber sitzen konnte man drin, eine Person nur, aber für die war es gut, an warmen Tagen, neben dem Grill und den Stühlen, auf denen wir uns in die Sonne gesetzt haben und gelesen, gegessen, gesoffen haben und gelebt, ja so haben wir gelebt in der Schanze, damals als alles noch wie eine Phase schien und der Hedonismus die gewählte Lebenseinstellung war, nicht die aufgezwunge, wie er mir die Jahre später oft vorkam. Ja so haben wir gelebt, damals, als ich noch nicht wusste, was das Leben in Gänze ist, als ich noch dachte, das wird ein Kinderspiel, das krieg ich hin, ich studiere, ich find schon meinen Platz, meine Liebe und dann werd ich spießig, auch wenn ich mir das nie zugestanden hätte wollte ich einfach spießig werde, kleines Haus, Familie, am Tisch sitzen und gemeinsam Abendessen, geheimer Traum, mein Traum, ich teil ihn nur mit euch.
Selten habe ich das Gefühl so klar zu sehen, wie wenn man den Mond als dreidimensionales Objekt und nicht als Scheibe wahrnimmt und selten hab ich so klar gesehen wie an dem Tag, als ich in der Schanze gewohnt habe, mit Ronny König und der Baronin, die bei uns eingezogen ist, weil Sam Furth ausgezogen ist, selten habe ich so klar gesehen wie an dem Tag, als wir draußen saßen, im Park, am helllichten Tag und ich den Mond gesehen habe, als dreidimensionales Objekt und als ich gemerkt habe, da kommt nichts einfach so, ich bin depressiv, ich bin alleine, ich finde meinen Platz nicht einfach so, ich trinke zu viel, viel zu viel, die Schanze läuft aus dem Ruder, meine Wäsche stapelt sich am Gang und Robbys Vater meint wir kriegen vielleicht Tiere, weil es so aussieht und er meinte Ungeziefer aber ich hätte lieber einen Hund.
So klar hab ich damals gesehen, dass ich mich auf dem Holzweg befinde und ich bin nicht mehr ganz so lang in der Schanze geblieben nach der Erkenntnis, ein halbes Jahr noch, aber dann hat sie die Schanze sowieso aufgelöst, Ronny König ist nach Berlin um dort Koch zu werden, die Baronin zurück nach, Wien um dort nicht mehr in Leipzig sein zu müssen. Ich bin in die kleine Wohnung mit Felipe gezogen und ich habe am Umzugstag ‘’Please, Please, Please, Let Me Get What I Want’’ von den Smiths gehört,
‘’Good times for a change
See, the luck I’ve had
Can make a good man
turn bad
So please, please, please
Let me, let me, let me, let me
Let me get what i want
This time’’
Aber schnell stellte sich heraus, dass nichts so werden sollte, wie ich wollte, dass alles wird und ich verfluchte alles, die Schanze, die Räusche, die viel zu vielen, den Hedonismus und vermisste doch alles, die Schanze, die Räusche, die viel zu vielen, den Hedonismus, die jugendliche Sorglosigkeit und auch jetzt, wo mir so die leichte Spätherbst Sonne ins Gesicht scheint, bin ich irgendwie dankbar für alles was ich hier erlebt habe, für alles was mich zu der Person gemacht hat, die ich bin, zu der Person, die jetzt nach Wien ziehen wird und verdammt nochmal schreiben wird und glücklich sein wird und endlich ihren Platz findet, auch wenn das Finden bedeutet, diesen Platz einfach selber zu schaffen, gegen jede noch so beschissene Widrigkeit.
Mein Weg ging vielleicht nicht immer gerade aus und wird es auch bestimmt in Zukunft nicht gehen, aber das ist in Ordnung, ich sammele den Reichtum der vom Glück gemiedenen, sammel Erfahrung und werde irgendwann erwachsen, auch wenn es bei mir vielleicht länger dauert als beispielsweise beim Fabi Weiland aus meiner Klasse, der jetzt mit seinem Studium fertig ist und bestimmt schon reich ist, wie er es immer sein wollte, oder beim Tim Bier, der nach der Schule auf Schiffen von Portugal, über Kap Verde, bis nach Südamerika getrampt ist und jetzt wieder in der Nähe von München wohnt und einen Sohn hat, vielleicht sind die schneller erwachsen geworden, jeder auf seine Art, aber ich weiß nicht ob sie dabei so viel Freund*innen hatten wie ich, so viel Leben in ihre Existenz gepackt haben, gut, der Tim auf den Schiffen vielleicht, aber der Fabi in der Uni und an der Börse eher nicht.
Ich bin auf einem guten Weg, so allgemein, das weiß ich, und das sehe ich auch daran, dass ich an Hannas Tür vorbeigehe. Schanze Hausnummer fünf, Hanna Hausnummer 12, ich gehe vorbei und denke nicht, bitte treffen wir uns zufällig und kommen ins Gespräch und doch wird irgendwie alles gut, bitte komm nicht mit irgendeinem Typen aus der Tür, nein, ich gehe vorbei und denke nicht mal an sie, was eine Lüge ist, aber ich denke nicht so groß an sie, wie ich es zu lange getan habe. Ich bin auf dem Weg zu Sara und hab mein Glück trotzdem in meiner Hand, auch weil ich weiß, dass ich umziehe, weil ich weiß, dass nichts für immer ist und weil ich weiß, dass es aus all den Schmerzen, all der Angst an viel zu langen Abenden, all den dunklen Gedanken, einen Ausweg gibt. Es gibt ihn und er ist zu finden, er ist zu gehen und er wird mich an einen guten Ort in mir selber führen. So viele Jahre war ich nicht mehr zu Hause, bin, wie schon gesagt, nach der Schule mit zu Freunden gegangen, hab mich dann irgendwann verirrt, aber jetzt, jetzt habe ich die richtige Abzweigung genommen, ich bin auf dem Weg nach Hause, wo auch immer das sein mag.
Elena Debachinsky © für Bohema
Der Roman “The Leipzig Years” ist das geistige Eigentum von Nils Kaiser kaiser.nils1@web.de
Lektorat Yannik Barth
Collage: Elena Debachinsky