Who is Sean Baker - oder: eine Erkundung der conditio humana
Ein Versuch, Sean Bakers Filme miteinander zu verbinden, zum Denken anzuregen und Gedanken loszuwerden.
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In etlichen Interviews, Filmkritiken und Filmrezensionen fällt ein Wort, wird eine Beschreibung benutzt, eine Zuordnung getätigt, welche den Regisseur Sean Baker in ein ganz bestimmtes Rampenlicht stellt. Man nennt ihn empathisch, human und mitfühlend. Man beschreibt ihn als Optimisten, Realisten und Innovativer. Man betitelt seine Filme mit non mainstream cinema, beschreibt sie als unkonventionell und aus der Konformität herausfallend. Um seine Filme zu verstehen, müssen wir jedoch einen Blick hinter diese Etiketten werfen, den Schein abschütteln und uns auf die Suche nach den Bedeutungen hinter den Bildern auf der Leinwand machen. Was genau ist dieses Etwas, das sich uns Zuschauenden einerseits auf explizite Art und Weise in Form von unmittelbaren Eindrücken offenbart, andererseits als implizite Nebenerscheinung auftritt, die zur Interpretation freisteht? In anderen Worten: Was macht Sean Bakers Filme aus? Welche Elemente verbinden sie und welche trennen sie?
Die zwei Ebenen - explizit und implizit - verschränken sich und stehen in dauernder Wechselwirkung zueinander. Beispielsweise können die Spielereien der Kinder im Film Florida Project als das betrachtet werden, was sie sind, also als bloße Spielereien, zum anderen drängt sich die Frage nach den Implikationen auf. In dem Film werden wir qua Kamera-Sichtpunkt zum Kind und begleiten die sechsjährige Moonee und ihre Freunde auf ihre Abenteuer rundum ein heruntergekommenes Motel im Schatten Disneylands. Prekäre Armut und Ausgrenzung umgeben sie wie die unsichtbaren Gitter eines sozialen Gefängnisses. Diese Gitter und das Gefängnis symbolisieren metaphorisch den Mythos des sozialen Aufstieges. Denn die Idee des American Dream, an die sich die Mehrheit der Amerikaner*innen in der Hoffnung auf ein besseres Leben klammert, scheitert (nicht nur) in The Florida Project an der Realität. Die hohen Armutsraten und der Umstand, dass Jugendliche aus marginalisierten, einkommensschwachen Haushalten so gut wie keine Chance haben aus ihrer sozialen Situation auszubrechen und sich aus der Zelle der sozialen Herkunft zu befreien, macht den Traum zu einem Albtraum.
In seinem Buch Die feinen Unterschiede unterscheidet der Soziologe Pierre Bourdieu zwischen objektivem und subjektivem Möglichkeitsraum. Der objektive Raum meint die sozialen Strukturen und die daraus hervorgehenden Möglichkeiten, die einem Individuum gegeben sind, um jeweilige berufliche und schulische Aspirationen zu verfolgen - Infrastruktur oder finanzielle Mittel der Eltern zum Beispiel. Dagegen beschreibt der subjektive Raum, die unkonkreteren Erwartungen, Ansprüche, Wünsche und Bestrebungen, welches ein Individuum für möglich, erreichbar und machbar hält. Hier geht es um die Frage: Was erscheint mir möglich und was unmöglich? Die gesellschaftlichen Erwartungen sind in uns eingeschrieben, eingraviert, eingemeißelt und äußern sich in unserem Habitus, also in unseren Denkweisen, Sprechweisen, Geschmäckern und Lebensstilen. Letztendlich entscheidet das Zusammenspiel von subjektivem und objektivem Raum darüber, ob ich Tellerwäscher*in oder Pilot*in werde.
Im starken Gegensatz zum Florida Project steht Sean Bakers neuester Film Anora, der hier als prototypisches Beispiel eine Brücke zu seiner vollständigen Filmografie schlagen soll. Lag der Fokus in früheren Filmen auf unmittelbaren Bildern, Eindrücken und Atmosphären, geht es in Anora stärker um das Fortschreiten der Handlung. Wir werden Zeug*innen einer kurzen, Cinderella-ähnlichen Lovestory, die oft mit Pretty Woman verglichenen wird. Die junge Stripperin Ani trifft den Oligarchensohn Ivan, aus einer betrunkenen Euphorie heraus heiraten die beiden in Vegas. Ivans Eltern erfahren davon und schicken in der Absicht, die Ehe zu annullieren, ihre Lakaien los. Eine schmerzhaft lange Verfolgungsjagd beginnt.
Der erste Aspekt, der hier und auch in anderen Baker-Filmen vorzufinden ist, ist der der Sexarbeit. In Anora ist es eine Stripperin, im Florida Project bietet Haley, die Mutter der sexjährigen Moonee sexuelle Dienste gegen Geld an. In Red Rocket kehrt ein Pornostar in seine Heimatstadt zurück, Tangerine L.A. handelt wiederum von zwei transsexuellen Prostituierten, die an Heiligabend durch die orangen Straßen von Los Angeles rennen. In Starlet freundet sich die junge Pornodarstellerin Jane mit der allein lebenden Witwe Sadie an. Nicht unbekannt ist, dass an Sexarbeit ein Stigma haftet. Man kann sich ein Stigma wie ein Brandmal vorstellen - ein Merkmal, das jemanden einem negativ bewerteten Typus zuordnet. Es ist ein Merkmal, welches die Macht hat, die persönliche Identität eines Individuums zu beschädigen, sie zu überdecken. Sexarbeiter*in zu sein ist etwas, was es zu verstecken, verbergen und verheimlichen gilt. Viele, die mit so einer Abstempelung zu kämpfen haben, finden sich in einer täglichen Inszenierung wieder, in der sie versuchen den Informationsfluss durch Täuschung und Darstellung zu kontrollieren. Erving Goffman würde diesen Akt mit einem Theaterspiel gleichsetzen, bei dem es Ensemble, Fassade, Requisiten, Vorder- und Hinterbühne gibt.
Wenn es heißt, dass Sean Baker nach Entstigmatisierung strebt, meint das wohl seine rohe, authentische Art und Weise Handlungen und marginalisierte Gruppen darzustellen. Er verfolgt das Ziel zu zeigen, dass die, die wir stigmatisieren, auch nur Menschen sind.
Wenn es außerdem heißt, dass Sean Baker humanistisch und mitfühlend ist, meint das wohl die vorurteilsfreien Schwankungen der Kamera, die jeden Winkel und Gesichtszug der Charaktere erfassen und sie in einen Realismus tauchen. Um diesen Realismus doch ein wenig einzuschränken, ist auf den Film Red Rocket und die Beziehung zwischen dem jungen Mädchen Strawberry und dem älteren Pornostar Mikey Saber zu verweisen, die doch eher an einer idealistischen, männlichen Fantasie grenzt als an einem realitätsnahen Ereignis.
Der zweite Aspekt, der das Band zwischen den Filmen konstituiert, besteht aus mehreren Vorlieben Bakers. Er liebt es, mit Laiendarsteller*innen zu arbeiten, also mit Leuten, die das erste Mal vor der Kamera stehen. Er hat eine leichte Obsession für Donuts, die ziemlich sicher irgendeine symbolische Bedeutung in Zusammenhang mit der amerikanischen Kultur haben. Außerdem schreckt Baker nicht vor dem Low-Budget zurück und bedient sich unkonventionellen Mitteln, wie der damals bahnbrechenden Idee, einen ganzen Film (Tangerine L.A.) auf IPhones S5 zu drehen.
Wenn es einen dritten Aspekt gibt, welchen es anzusprechen gilt, dann erfasst dieser die Spaltungskraft von Bakers Filmen. Man stößt im Internet auf Reaktionen wie „ich kralle mich an meinen Sitz vor Spannung“ bis hin zu „ich kann mir ein Gähnen nicht verkneifen“, des Weiteren liest man Rezensionen, die sowohl von billigen Sexszenen ohne Plot als auch von empathischen Darstellungen berichten. Immer wenn sich zwei Seiten gegenüberstehen, grottenschlecht und ausgezeichnet, ein Film ein gewisses Level an Hype erreicht, dann betritt man den Kinosaal mit vorgefassten Erwartungen. Ich möchte in diesem Zusammenhang auf die sogenannte Verstärkerhypothese hinweisen, die besagt, dass vorherrschende Meinungen des Rezipienten durch mediale Inhalte nicht verändert, sondern nur verstärkt werden können.
Ja, Sean Baker exploriert in seinen Filmen, was es heißt Mensch zu sein; in Armut, in prekären Situationen, am Rand, ganz oben und selbstverständlich ganz unten. Er filmt, ohne Urteil. Deshalb müssen wir uns als Zuschauer*innen fragen und fragen. Was nehmen wir mit? Was lassen wir im Kinosaal? Abgesehen von verstreuten Popcornbröseln und einer vollen Blase. Was tut der Film mit uns? Was liegt hinter den Bildern?