They had a dream

Achtzig Jahre nach John Steinbecks Früchte des Zorns ist die Macht des Kapitals ungebrochen. Am Werk X nimmt sich Harald Posch einer Aktualisierung des Stoffes an.

(c) Alexander Gotter, Werk X

Eine riesige, weiße Plane deckt fast die gesamte Bühne ab und ist rückwertig an einem Holzgerüst hochgezogen, wo sie gleichsam eine Mauer bildet (Bühne: Daniel Sommergruber). Müllsäcke, zerschlissene Möbel, Plastiktaschen und ein verrostetes Förderband machen den deprimierenden Look komplett. Im Hintergrund flackert in Neonlettern: (I had a) Dream. In John Steinbecks Romanvorlage The Grapes of Wrath sieht sich die Farmerfamilie Joad von den Folgen der Großen Depression in den 1930er Jahren dazu gezwungen, ihr spärliches Hab und Gut auf die Schultern zu laden und gen Westen nach Kalifornien zu flüchten. Dort gebe es Arbeit, Hoffnung. Dort warte ein besseres Leben. Die Realität sieht, wie so oft, dann aber anders aus. Nach der beschwerlichen Flucht landet die Familie mit tausenden von anderen in Lagern, wo sie von den Grundbesitzern ausgebeutet und von der Bevölkerung angefeindet werden. Stück für Stück zerbricht die Familie unter der Last eines faulen Systems. 

Die Aktualisierung unterstreicht das Offensichtliche

Die Parallelen des Textes zum aktuellen Weltgeschehen waren Regisseur Harald Posch offenbar nicht ausreichend – er hievt die Geschichte der Joads in die Gegenwart. Mit Feinrippunterhemden, Jogginghosen und IKEA-Taschen ausgestattet ficht die Familie ihren aussichtslosen Kampf gegen die Übermacht des Neoliberalismus. Es entbehrt freilich der Komik nicht, wenn Ex-Wanderprediger Jim Casey (Martin Hemmer), der sich der Familie auf der Flucht anschließt, mit Topfhaarschnitt, kariertem Oversize-Sakko und ohne Schuhe beim tiefgründigen Monologisieren an einen Philosophiestudenten in der Quarterlife Crisis erinnert. Was nicht heißen soll, dass die einzelnen humoristischen Szenen dem Abend schadeten – Keineswegs! Gerade in der bittersüßen Tragikomik, die vorrangig Jim und dem frisch aus dem Gefängnis entlassenen Tom (Sebastian Wendelin) anhaften, wurzeln die berührendsten Momente. Pointiert und einfühlsam ist ebenso der Einsatz von Musik: es reichen einige wenige Takte, die Martin Hemmer mit der E-Gitarre in die Loop Station einspielt, um die bedrückende Grundstimmung seines Rezitativs nachhaltig zu betonen. 

(c) Alexander Gotter, Werk X

Doch dann wird die Handkamera ausgepackt…

Was an Spannung und Emotion in der ersten Hälfte des neunzigminütigen Abends aufgebaut wird, verliert sich jedoch in der zweiten. Nach Ankunft der Familie Joad im Westen findet das Geschehen in den Migrantenlagern zum überwiegenden Teil hinter der Planenbarrikade und somit abgeschirmt vom Publikum statt. Trotz Videoübertragung durch eine Live-Cam büßt die Inszenierung dadurch enorm an Intensität ein. Die vereinzelten Sätze, die noch vor der Mauer gesagt werden, werden frontal in den Saal gesprochen, die tragischen Schlussszenen im Camp, die man über die Projektion verfolgt, bleiben sowohl räumlich als auch expressiv entrückt und isoliert. 

(c) Alexander Gotter, Werk X

Dieses Ensemble hätte man wirklich nicht hinter Planen verstecken müssen

Harald Poschs Inszenierung des Pulitzer-Preis-prämierten Steinbeck Romans vergegenwärtigt die Macht des Kapitals auf ungeschönte Weise und lässt keine Zweifel an der Relevanz der Thematik offen. Das diverse, mehrsprachige Ensemble (noch nicht genannt: Barča Baxant, Oana Solomon, Bagher Ahmadi, Ayo Aloba, Nikita Dendl) nimmt den gesamten Raum vollkommen mühelos ein, besticht durch Präsenz und Natürlichkeit und wird am Premierenabend zurecht mit überschwänglichem Applaus geehrt. Dass trotz der knappen Aufführungsdauer von anderthalb Stunden Längen entstehen, ist dem etwas zu großzügigen Einsatz von live Videos geschuldet. 

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