Von Schuld und Schuldbewusstsein

Einen Abend lang wundern, ekeln und in raffinierten Dialogen baden. Das war Anselm Lipgens Inszenierung von Blackbird im Scalarama.

(c) Soi Schüssler /// Sam Madwar /// Theater zum Fürchten

Das Theater Scala ist genau so, wie ein richtiges Theater sein soll: Alt, gemütlich und mit samtenen Vorhängen und Teppichen bestückt. Schon im Foyer riecht es nach Kostümen und eine perfekt chaotische Galerie vergangener Stücke, die ihre Spieler*innen mit Stolz präsentiert, begleitet die Zuschauenden hinab ins Scalarama. 

Die wohlige Sonnabendstimmung verfliegt schnell, als man in den Bühnenraum (gestaltet von Sam Madwar) tritt. Zu sehen ist ein trister Pausenraum, dessen trostlose Unruhe in der Luft zu spüren ist. Ausgestattet mit klapprigen Stühlen aus Metall, Getränkeautomaten, dreckigen Tischen und Unmengen an Müll, der aus den Abfalleimern bereits den Weg zum Boden gefunden hat. Der Raum ist extrem, ekelhaft und gleichzeitig unscheinbar – ein Spektakel, das sich durch die gesamte Inszenierung von Anselm Lipgens hindurchzieht. 

David Harrowers Blackbird ist ein andauerndes Paradox. Ein Machtspiel, ein Rachezug und eine schaurige Liebesgeschichte zweier Menschen, deren Leben zerstört wurde. Der Täter? Sicherlich der Protagonist Ray. Die Geschichte geht jedoch tiefer als einfache Verurteilung. Harrower schafft es in seinen giftigen Dialogen die Menschlichkeit herauszuarbeiten, welche von Sam Madwar als Ray und durchaus authentisch von Soi Schüssler als Una in gesprochenes Wort transkribiert wurden. 

Ray heißt jetzt Peter, ist 53 Jahre alt und sichtlich schockiert, als die nun erwachsene Una vor ihm in seiner Firma steht. Er schreit sie an, sie knallt die Tür zu, er reißt sie wieder auf. Spätestens jetzt sind alle, die vom kalten Sonntagabend eingelullt auf ihren Stühlen sitzen, wach. “Was willst du hier?”, schreit Ray immer wieder. Una ist gelassen, arrogant und herrisch. Sie steht da in einem kurzen Minirock, einer engen Bluse und braunen Stiefeln. Fehlte nur der pinke Cowboy-Hut, und sie sähe ihrem 12 jährigen Ich ähnlich - etwas, das auch Ray bemerkt. Vor 13 Jahren hat er mit ihr geschlafen. Sie war verliebt und er war schuldig.

Ein Spiel moralischer Paradoxe

Doch da sind Grauzonen, die aufgearbeitet werden müssen, Fragen, deren Antworten nie ausgesprochen wurden. Ob er dasselbe mit anderen 12-Jährigen gemacht habe? Nein, Una sei die Einzige. Schon in den ersten 30 Minuten haben sich die beiden mehrmals gestritten, wieder fast versöhnt, in der Vergangenheit sinniert wie alte Bekannte, nur um sich dann doch wieder anzuschreien. Die Stimmung ist hektisch, dynamisch, leidenschaftlich und beängstigend. Schüssler und Madwar tragen sich gegenseitig durch das Machtspiel, das den Zuschauenden über die gesamte Zeit den Atem stocken lässt. Das Zwischenmenschliche ist von Sekunde eins spürbar, intensiviert sich und vermischt sich abwechselnd mit Abscheu und Mitleid. Ray ist der Täter, Una das Opfer – so das gerichtliche Urteil. So die gesellschaftliche Konsequenz, der beide Protagonisten scheinbar nicht entfliehen können. 

Lipgens Inszenierung ist recht simpel, exponentiell geladen und endet in einer unbefriedigenden Leere, die so klassisch ist für Blackbird und daher genau richtig. Der Abend vergeht wie im Flug, man hat fast keine Zeit das Gesehene, das Gesagte und aber auch den Subkontext zu verarbeiten. Ray und Una wechseln ständig ihre Rollen, mal von Tochter und Vater zu einem alten Ehepaar, mal zu Feinden, die sich gegenseitig die Haare ausreißen und letztlich doch auch zu Liebhabern, die sich nicht haben können. Selten, aber dafür umso intensiver, blitzt ein wenig Menschlichkeit durch, hier und da sogar ein bisschen Unschuld - oder ist es doch bloß Unschuldigkeit, die da gespielt wird? 

Antworten gibt die Inszenierung im Scalarama nicht, das Spiel endet so abrupt, wie es begonnen hat: Mit einem lauten Knall und einem Raum voller Müll, der umher gewirbelt und zum wiederholten Male hinter verschlossenen Türen liegen gelassen wurde. Eins ist sicher: Schüssler und Madwar haben den Zuschauenden die Grauzonen des Menschlichen spüren lassen, deren beklemmender Beigeschmack auch noch Tage danach unter die Haut geht. 

Previous
Previous

Roter Himmel: „Etwas stimmt nicht“

Next
Next

Was Spotify Wrapped wirklich (über dich) aussagt