Was Spotify Wrapped wirklich (über dich) aussagt

Muss man sich schämen, wenn man gerne Popmusik hört? Jetzt schon, es ist Zeit für Spotify Wrapped. Ein Antwortbrief zwischen Astrologie, Kohle und der guten alten Taylor Swift.

(c) Rachel Goswell /// Pinterest

‘Tis the season! Social Media ist zwar ganzjährig auf Selbstdarstellung ausgelegt, aber am Ende des Jahres geht es für einen kurzen Moment nur um das eine: Einen möglichst einzigartigen Musikgeschmack. Spotify Wrapped heißt dieses Ding, das Spotify und mittlerweile auch die Konkurrenz jeden Dezember anbieten. Ein Jahresrückblick auf das eigene Hörverhalten in der App, bei dem man sich durch eine kleine bunte Diashow der musikalischen Reise klickt.

Unser „Zeitalter“ steht auf Nabelschau, auf das Individuum, und wir befassen uns einfach gern mit uns selbst: Astrologie, Persönlichkeitstests, und jetzt eben Musik. Es macht Spaß, sich zu zeigen, zu vergleichen, vielleicht auch inspirieren zu lassen. Und irgendwie muss man das auch, um teilnehmen zu dürfen. Die Streaming-Dienste bedienen damit die Annahme, dass sich in einem narzisstischen Weltbild alle besonders fühlen wollen. Ein bisschen cooler als die anderen, ein bisschen besser informiert. Das muss man sich regelmäßig bestätigen lassen. Liv Strömquist schreibt dazu in ihrem Comic Astrologie:

„Im Unterschied zu den Identitäten früherer Epochen, die sehr festgelegt waren, gibt es heute immer weniger Sachen, an die wir uns halten können: Unsere Identität wird ständig infrage gestellt, ist wandelbar, fluide. In dem Maße, in dem der Individualismus sich ausbreitet, sind wir mehr und mehr besessen davon, unser ICH zu untersuchen/verstehen/gestalten/“finden“ und zu manifestieren.“

Pop = Böse?

Ist Spotify Wrapped also einfach nur eine weitere Methode, um sich mit sich selbst zu beschäftigen? Gestern bin ich über die Kolumne von Sebastian Hotz auf Zeit Campus gestolpert: Er schäme sich immer ein bisschen dafür, dass sein Lieblingssong des Jahres von Taylor Swift kommt – und nicht von einer unbekannten Underground-Band, mit der man sich online dann als kultiviert und geheimnisvoll inszenieren kann. Das scheint einigen so zu gehen, die gerne Popmusik hören. Und das stört ihn:

„Die Herabwürdigung jeder kommerziell erfolgreichen Musik ist zu einem Automatismus geworden, der sich von kritischen Feuilletonist*innen auf alle übertragen hat, die sich irgendwie überhaupt für Musik interessieren. Sie sind der Überzeugung, Popmusik sei ein Massenprodukt, seelenlos produziert von der bösen Musikindustrie, um superviel Geld zu verdienen.“

Der Jahresrückblick sorgt also dafür, dass man sich je nach Ergebnis auf Social Media in gewisse Kategorien einteilen lassen muss: Musik-Nerd, Radio-Hörer*in, Alternative*r – Gatekeeping also. Aber: Uns wird vor Augen geführt, womit wir das letzte Jahr unsere Zeit verbracht haben und was uns, zumindest statistisch gesehen, wirklich gut gefällt. Da passt der Popstar vielleicht nicht unbedingt ins Selbstbild, oder eben nicht in die gesellschaftlichen Erwartungen. Denn, und das stimmt, Mainstream-Kunst wird gerne als weniger wertvolles Produkt abgewertet. Und damit auch die Person, die sich daran erfreut.

Was viel zum „Shaming“-Gefühl beiträgt, ist aber nicht nur der Fakt, dass ein paar Gatekeeping-Feuilletonist*innen gerne ihre Wertvorstellungen aufrecht erhalten. Am Mainstream-Geschäft ist ein wichtiger Faktor zu kritisieren, der gerne übergangen wird: Es ist keine nachhaltige Form des Kunst-Konsums.

Generell ist Streaming für das Gegenteil bekannt: Dafür, unbekannte Künstler*innen ausbluten zu lassen. Sie sind gefangen in einem System, in dem sie nichts verdienen können und werden trotzdem gezwungen, daran teilzunehmen.

Es scheint also eher so, als würde man sich nicht per se für den populären Lieblingssong schämen müssen, sondern dafür, dass man damit automatisch den Rest verdrängt. So, als würde mir heute angezeigt werden, dass ich dieses Jahr hauptsächlich bei Amazon Prime bestellt habe. Und nicht, wie vielleicht angenehmer für meine Selbstwahrnehmung, den süßen Laden um die Ecke unterstützt habe.

Wer von uns hat dieses Jahr ein Konzert besucht, das nicht von Ticketmaster organisiert wurde? Oder eine Platte gekauft? Oder eine Zeitung abonniert? Oder sonst irgendwie die Kunst- und Kulturszene unterstützt, ohne dabei hauptsächlich auf gratis Services und Mainstream-Angebot zurückzugreifen?

Das unangenehme Gefühl, was auf die zurückfällt, die einfach gern kommerzielle Musik hören, ist also irgendwie auch fehlgeleitete Kritik. Natürlich ist es unlogisch Einzelne dafür verantwortlich zu machen, Konzernriesen in ihrer Ausbeutung zu unterstützen. Das tut man sowieso, auch wenn man unbekannte Bands auf Spotify hört. Aber es lässt sich eben schwerer damit angeben. Und deswegen schämt man sich vielleicht für ein Spotify Wrapped. Während man sich eigentlich darüber aufregen müsste, dass Künstler*innen für ca. 0,3 Cent pro Play ihre Werke zur Verfügung stellen. Jamal Hachem von Affine Records hat die Rolle von Musiker*innen im (übrigens sehr zu empfehlenden) Interview mit musicaustria so zusammengefasst:

„Wir arbeiten für Drake und Taylor Swift und nehmen ganz offensichtlich hin, die nützlichen Idioten zu sein. (…) Ein Player beherrscht den Markt. Diese Dominanz macht es schwierig bis unmöglich, auf andere Bereiche auszuweichen – außer man bricht sie mit einem neuen Kollektivismus.“

Ja, El Hotzo, die Musikindustrie scheint leider wirklich oft böse zu sein. Vor allem zu denen, die nicht mit ihrem Privatjet die Luft verpesten dürfen. Oder die mit einem erfolgreichen Podcast auf den Apps vertreten sind. Statt sich online mobben zu lassen, könnte man als Musik-Fan aber etwas Positives daraus ziehen:

Wir müssen uns auf die Seite der (lokal auftretenden) Musiker*innen schlagen. Ein gemeinsames Aussteigen aus dem Streaming-Angebot ist keine einfache Lösung.

Und für viele auch nicht erschwinglich genug. Dennoch das ultimative Boomer-Argument: Vielleicht sollte man ab und zu etwas Neues anhören, das nicht auf der letzten “Best of”-Playlist zu finden ist. Vielleicht mal schauen, welche Konzerte nächstes Wochenende anstehen und hingehen. Vielleicht ein paar Newcomer*innen eine Chance geben. Und dann später, wenn sie berühmt sind, sagen können „Boah, die hab ich 2023 schon gehört. Jetzt ist was neues dran“.

Seit wann ist es eigentlich so, dass Leute gerne drei- bis vierstellige Beträge für Stadion-Konzerte ausgeben, um dann einen Platz HINTER der Bühne zu bekommen? Und dass man gleichzeitig 10 Euro Eintritt ein bisschen zu viel findet, wenn die Band vorher noch nicht im Radio gespielt wurde? Die Lust am Suchen und gelegentlichen Finden ist doch das, was Kunst so besonders macht. Und das, was Vielfalt außerhalb des bösen, bösen Algorithmus am Leben hält.

Wozu das ewige Sich-Vergleichen auf Social Media führt, ist sowieso ein Rätsel. Aber eins ist klar: Es ist gratis Werbung für die, die genug Schaden anrichten. Entscheiden wir uns gemeinsam, wenn auch anfangs nur ab und zu, dagegen.

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