Was Theater und TikTok gemeinsam haben
Instagram Reels und TikToks sind die neuen digitalen Phänomene des Internets. Die Autorin findet, sie erinnern an das, was man Theater nennt. Über ein Netztheater, nachdem wir gar nicht gesucht haben.
Erving Goffman hat mal gesagt, wir alle spielen Rollen. In unserem Alltag nehmen wir verschiedene Rollen an, sind Kind und Schwester, Studentin und Mitbewohnerin, Partnerin und Kollegin. Rollen spielen wir aber lange nicht mehr nur in der realen, sondern auch in der digitalen Welt. Wir loggen uns ein, scrollen meterlang durch die digitale Strecke und fallen in sogenannte (Achtung internet slang) rabbitholes. Wir konsumieren, produzieren und inszenieren uns mit den Beiträgen, die wir kommentieren, den Likes, die wir verteilen und den Bildern, die wir hochladen.
Aber nein, ich meine hier nicht, dass wir alle schon lange eine Internetpersönlichkeit sind. Da fehlt ja das Theatralische, das Unterhaltende, die Story. Was ich meine ist die neue, digitale Genese von TikToks und Reels. Den Unterschied zwischen den beiden, weiß ich selbst erst nach einiger Recherche. Aber was mir aufgefallen ist: zwischen dem, was theatrale und darstellende Kunst macht und den Inhalten, die auf diesen Plattformen erstellt und verbreitet werden, bestehen einige Gemeinsamkeiten.
Die Story
Die kurzen Instagram Reels und TikTok-Videos erzählen eine kleine Geschichte, machen Comedy, geben Ratschläge, machen sich über eine Begebenheit in Sketchen lustig oder kommentieren diese. Teils ahmen die Videoclips etwas nach. Gemäß den Ansprüchen veränderter Sehgewohnheiten und moderner, schnelllebiger Unterhaltung zwar kurz, humorvoll und pointiert aber dennoch: das, was sie erzählen hat Inhalt und Relevanz für den Großteil der Menschen, der sich im Internet und in den sozialen Medien rumtreibt.
Genauso kommentieren die TikToks und Reels Alltagsituationen, bedienen Klischees, provozieren oder positionieren sich. Dabei treffen sie auf Zustimmung, sonst hätten sich diese neuen Formate nicht durchgesetzt und würden nicht funktionieren. Diese Art des Storytellings findet sich im Theater, wo nicht selten das Weltgeschehen kommentiert wird, Klischees für Lacher sorgen und eine ganze Historie auf die Bühne gebracht wird.
Die Ausstattung
Es wird schon lange nicht mehr nur auf Play gedrückt. Die Darsteller*innen nutzen alle Mittel, die es auch auf dem Theater gibt. Und dadurch, dass sie für ein digitales Medium produzieren, sogar mehr und extremer. Mit eingebetteten Hintergründen, Kostümen, Requisiten, Texten, Musikuntermalungen, Zooms und Übergängen bedienen sie das Repertoire der darstellenden Künste. Wo die Perücke mit Engelslocken auf der Theaterbühne dem naturalistischen Stil der Inszenierung dienen soll, bedient die aufgesetzte Haarpracht im TikTok-Clip oder im Instagram Reel humoristisch das kulturelle Gedächtnis und allgemeingültige Assoziationsräume seiner Follower*innen. Die Mittel sind die gleichen, nur die bespielte Bühne ist eine andere.
Online: Tik-Toker*in, Offline: Schauspieler*in
Vielleicht finden wir den ein oder anderen Instagram Reel und TikTok-Clip ja so witzig, weil sie so übertrieben sind, unerwartet und dadurch sehr treffend. Das Gespielte, das Übertriebene, die körperliche Darstellung, das was von Laien als dramatisch bezeichnet wird, ist hier der entscheidende und unterhaltende Faktor. Sie nehmen eine Rolle an, auch wenn es nur für 10 Sekunden ist. Das Spielerische ist auf dem kleinen Bildschirm lustig, auf einer Bühne schreckt es kann es schnell abschrecken. Paradox eigentlich, der Bildschirm ist schließlich näher an uns als die Schauspieler*innen auf der Bühne.
Daher wundert es nicht, dass viele der bekanntesten TikTok-Künstler*innen im deutschsprachigen Raum außerhalb der digitalen Welt Schauspieler*innen und Comedians sind, die hauptberuflich genau das machen, was die Schauspieler*innen im Theater auch machen: auf einer Bühne stehen und mit dem Einsatz ihres Körpers eine Story mit den ihnen verfügbaren Mitteln erzählen.
Vielleicht fällt euch das bei den nächsten kurzen Clips auf Instagram oder TikTok ja auch auf. Und vielleicht werdet ihr merken, dass die Kurzvideos auffällig theatralisch, mit Kostümierungen und digitalen Hintergründen dazu beigetragen haben, dass ein Netztheater entstanden ist, nachdem wir gar nicht gesucht haben. Manchmal sind die Dinge schon längst vor unseren Augen.
Während TikTok eine App ist, auf der User*innen kurze Videoclips anschauen, selbst erstellen, bearbeiten und hochladen können, sind die Reels auf Instagram nur eine Funktion in der App. Diese wurde nach der Popularität von TikTok als Reaktion und aufgrund von Konkurrenzdruck von Instagram ins Leben gerufen und funktioniert im Prinzip ähnlich, sogar die Oberfläche ist fast identisch. Durch die Verbreitung und Vermischung beider Formate, erscheinen TikToks auch als Reels auf Instagram. Die kurzen, meist 15 bis 30 Sekunden langen Videoclips sind bei den jüngeren Generationen besonder beliebt, da sie kurzweilig und unterhaltsam Content liefern, mit Musik und Filtern untermalt sind und durch clevere Algorithmen personalisiert im Feed auftauchen.
Mimesis (altgr.) Nachahmung, später auch Darstellung. Angelehnt an die Poetik von Aristoteles meint mimesis auf künstlerisch-kulturwissenschaftlicher Ebene und im speziellen in der Theaterwissenschaft, durch (schau-)spielerischem, nachahmendem Verhalten eine Wirkung bei den Zuseher*innen zu erzielen. Um etwas nachzuahmen und darzustellen, braucht es eine inhaltliche Basis auf welche sich via Nachahmung (rück-)bezogen wird. Stichwort ist hier das kulturelle Gedächtnis einer Gesellschaft. Im außer künstlerischen Kontext erfordert Nachahmung ein Minimum an Reflektion, so lernt zum Beispiel das Kleinkind durch die Nachahmung der Menschen in seinem Umwelt einzelne Fähigkeiten.