Wie sich die Jeunesse neu erfindet

Stefanie Reinsperger zeigt als Carmen von Ottakring Stand-up-Qualitäten beim neuen Konzertformat von Österreichs größtem Musikveranstalter, mit dem dieser seine Krise überwindet.

Reinsperger in ihrem Element /// Peter Griesser, Jeunesse ©

Eine Version dieses Artikels ist zunächst in der ‘Presse’ erschienen.

Die Jeunesse hat wirre Jahre hinter sich. Innerhalb kurzer Zeit schmissen gleich zwei Cellisten als Generalsekretäre hin: Zunächst 2021 Philippe Comploi nach kaum einem halben Jahr, danach ging Christian Schulz nach nur einer Saison lieber zurück zu seinem sicheren Job zu den Symphonikern, wo er sich zuvor für ein Jahr hatte karenzieren lassen, um sich als Kulturmanager auszuprobieren. Mit der mittlerweile nicht mehr ganz so neuen Generalsekretärin Birgit Hinterholzer (sie ist seit Jänner 2023 bei der Jeunesse) ist Österreichs größter Musikveranstalter endlich zur Ruhe gekommen. Mehr noch, Hinterholzer hat es geschafft, dem kriselnden Verein ein neues Profil zu verpassen. Statt nur Kartenkontingente von den großen Häusern abzukaufen, macht die Jeunesse das, was Musikverein und Co nicht können (oder wollen): Sie geht raus in die ganze Stadt.

Carmen, aber mit Nachnamen Pospischil

Zum Beispiel in die Ottakringer Brauerei, wo am Samstag Susanne F. Wolfs Carmen in Ottakring gegeben wurde. Der Titel ist wohl eine Anspielung auf Wilhelm Pellerts Kultfilm von 1975 Jesus von Ottakring, statt der Passionsgeschichte bekam hier Bizets Opernschlager eine Dosis Lokalkolorit verpasst – konkret durch Burgschauspielerin Stefanie Reinsperger, die zwischen den größten Hits aus der Oper in perfektem wienerisch Carmen Carmencita Pospischil, „das glutvollste Madel von ganz Ottakring“ spielte. Deren Story wurde laut Pospischil nicht von Prosper Mérimée verfasst, nein, Bizett (in Ottakring sprach man in den 1870-ern kaum französisch) stahl sie von ihr, meint sie...

Reinsperger kreischte und grölte befreit und zeigte durchaus Stand-up-Qualitäten, auch wenn manche Witze selbst für die bierdunstige Atmosphäre etwas zu flach ausfielen. Egal, das Publikum amüsierte sich prächtig. Reinsperger spielte mal ihren Charakter, mal den Gendarmen Pepperl (das Äquivalent zu Don José) mal schlüpfte sie in die Rolle der Erzählerin. Den Gesang überließ sie zum Glück zwei Profis: Das unter Gerhard Sammer munter aufspielende Tiroler Kammerorchester InnStrumenti brachte dafür Camilla Lehmeier und Hwapyeong Gwon mit. Lehmeier gab eine starke Carmen, doch Gwons brachiale Tenorkanone lief ihr den Rang ab. Gwons schöner Schmelz und seine Stimmpower, die er aber meist geschickt bändigte, brachten ihm mehrmals begeisterten Zwischenapplaus ein; seinen Namen kann man sich merken.

Der Hopfenboden der Ottakringer Brauerei /// Peter Griesser, Jeunesse ©

War das alles große Kunst? Naa, eher Kleinkunst. Die aber immerhin auch berühren konnte: Als Carmen von ihrem eifersüchtigen Geliebten, dem Gendarmen Pepperl erdolcht wurde, konnte man nicht anders als an das Femizidproblem in der Gesellschaft zu denken. Bizets Oper ist zwar mit heutigen Augen rassistisch und sexistisch, sie schaut mit lüsternen Augen auf die von lauten Männern geschaffene (und dann umgebrachte) Romni Carmen. Der Sexismus wurde adressiert, der Rassismus eher unter den Teppich gekehrt. Aber hey, das Publikum war glücklich und klatschte begeistert mit. Vielleicht auch für sich selbst, dass sie in dem Mistwetter die Couch verließen. Bravo!

Caravaggio trifft Monteverdi

Die Jeunesse stellt ihre halbszenischen Staged Concerts auch in der nächsten Saison ins Zentrum ihres Programms. Unter anderem werden das Javus Quartett und Martha Matscheko im März 2026 bei Mozart@home in Mozarts Wohnung die Geschichte hinter Mozarts Figaro nacherzählen, das italienische Barockensemble La Venexiana wird im Mai berühmte Gemälde Caravaggios in „Tableaux vivants“ nachstellen und dazu Werke von Monteverdi und Co. spielen. Zusammen mit den erfolgreichen Familienkonzerten hat die Jeunesse damit endlich wieder eine Daseinsberechtigung.

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