Wien zum Pflücken

Seine Gedichte zieren den öffentlichen Raum Wiens seit fast 50 Jahren. Helmut Seethaler, der Wiener Zetteldichter, stört mit seinen Gedichten die Angepasstheit und so manch einen Grantler – ein Gespräch.

Zetteldichter Helmut Seethaler klebt beim Wiener Westbahnhof Gedichte zum Pflücken, 1996 /// Foto: Martin Ebner, WP

Zetteldichter Helmut Seethaler klebt beim Wiener Westbahnhof Gedichte zum Pflücken, 1996 /// Foto: Martin Ebner, WP

Wer auch nur einmal durch Wien gelaufen ist, kennt die Pflückgedichte des Wiener Zetteldichters. An Bimstationen, auf Brücken und in der U-Bahn kann man sie antreffen, lesen und pflücken. Diese kleinen Gedichte sind das Werk von Helmut Seethaler, der, bewaffnet mit Tixo-Klebeband und einer Tasche voller kopierter Blätter, sich aufmacht zu seinen Klebeaktionen. Als gebürtiger Wiener kennt er die Stadt und stellt sich zum Beispiel gerne vor den Ströck am Hauptbahnhof, um ein paar Säulen mit dem Klebeband zu umwickeln und die Gedichte darauf zu pflanzen. Dazu noch ein Schild mit Aufruf zum Pflücken der Gedichte und schon haben wir ein Schmankerl, vor dem die vorrübergehenden Passanten stehen bleiben und einstweilen ein Gedicht pflücken. 

„I moch das, was mitten im Alltag die Leute erreicht, die nie hineingehen in Galerien oder Bücher lesen.“

Seine Zettelgedichte sind wie kleine Funken von Unangepasstheit in der Stadt und ihr Erschaffer ein wandelnder Unangepasster, der nicht in diese erfolgsorientierte Welt zu passen scheint. In unserem Gespräch erzählt er von den Anfängen der Pflückgedichte, dem Wiener Grant und seinen Töchtern. 

Seine Zettelgedichte haben es nicht immer leicht an Wiens Wänden. Sie werden heruntergerissen, es wird die Polizei gerufen und so hat Seethaler schon viele Anzeigen in seinem Register – dabei allerdings keine Verurteilung. Denn im Gesetz geschrieben ist die Freiheit der Kunst. „Man muss Gesetze auch nutzen, damit sie bleiben.“ Und das tut er in vollem Maße und scheint es zu genießen.

Des Dichters Mittel gegen Drohanrufe: Gedichte auf dem Anrufbeantworter

Trotzdem tragen seine Frau und Kinder aus Sicherheitsgründen einen anderen Namen. Und die Drohanrufe sind erst weniger geworden, als er eine Telefonlesung seiner Gedichte auf dem Anrufbeantworter installierte. 

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Auf der anderen Seite hat er schon viele Preise gewonnen, etwa den Hauptpreis der freien Wiener Szene 2017. Und der Großteil der Wiener ist den kleinen Zetteln, die man überall antrifft, zugetan und hat sie im Stadtbild akzeptiert. Denn der Zetteldichter praktiziert schon fast seit fünfzig Jahren. In der Schule ist er zwar Klassensprecher und Schulsprecher gewesen, doch die Zeit bis zur Matura war geprägt von Abwesenheitsstunden und einem Drang, mal etwas anderes zu sehen. Anfang der 70er, nachdem er mit Ach und Krach seine Matura bestanden hat, beginnt er ein Philosophiestudium. Die Uni wird aber nur besucht, um halbjährlich die Inskription zu erneuern.

„Ich war inskribiert bis 27, war aber kaum mehr auf der Uni.“ 

Statt hineinzugehen, stellt er sich lieber vor die Uni, um mit einem Freund seine selbstgeschriebenen Gedichte zu verteilen. Doch da sah er sich zu sehr im Mittelpunkt. Um den Menschen nicht ganz so aufdringlich zu sein, klebte er die Zettel lose an Pfeiler, damit die Leute sie sich nach freiem Ermessen mitnehmen könnten und so waren die Pflückgedichte geboren.

Wiens Straßenbild sähe ohne den Zettelpoeten karger aus. Seine Zettel sind leicht in ihrer schwarz-weißen, schreibmaschinengetippten Art zu erkennen und sobald man einen findet, ob an der Bimstation oder beim Joggen im Park, man bleibt immer stehen, um zu lesen und zu pflücken. 

Die Zettel erzählen von Freiheit, Konsum, der Macht der Reichen

Sie erzählen davon, dass wir alle in den gleichen Trott verfallen, wenn wir nicht aufpassen. Und davon, dass der Wiener Zettelpoet nicht aufhören wird, seine Gedichte zu schreiben und zu verteilen. Denn zu den angepassten Menschen möchte er sich nicht zählen, bloß nicht zu brav, zu gesteuert sein. 

Die Texte werden immer wieder überarbeitet, er streicht etwas heraus oder schreibt einen alten Gedanken neu. Seethaler erklärt: „Manchmal liegen Texte wochenlang herum, sie gären weiter… ganz verschieden, aber ich tu gerne meine alten Texte neu bearbeiten, die Richtung bleibt aber gleich, aber konkreter, kürzer, prägnanter, damit er auch die erreicht, die sonst nur die Gratiszeitungen erreichen.“

Foto: Augustin Zeitung

Foto: Augustin Zeitung

Und mehr wird kommen: Der Wiener Zetteldichter denkt nicht ans Aufhören, dieses Jahr ist er 68 Jahre alt geworden. Und da seine Vorfahren, die übrigens alle Eisenbahner waren, meist um die 100 geworden waren, fällt es nicht schwer sich vorzustellen, Helmut Seethaler noch in zwanzig Jahren seine Zettel anzukleben zu sehen. Aber dann von seinen Enkeln im Rollstuhl geschoben, scherzt er. 

„Kein Text überdeckt oder überklebt jemals einen Fahrplan, ich bin ja Bahn-Fan.“ 

Der Zettelpoet hat das Eisenbahner-Gen also vielleicht doch geerbt. Statt zur Schule zu gehen, fuhr er als Jugendlicher mit einer Freikarte durch Österreich, und wenn heute nicht gerade Pandemie herrscht, geht der Zetteldichter auf Tournee. Innsbruck, Berlin, Leipzig, früher die DDR und auch die Schweiz hat er schon besucht. Einmal sieht er bei einer Klebeaktion in Berlin ein Auto mit Wiener Kennzeichen. Kommentar der Aussteigenden: „Jetzt ist der Trottel auch schon in Berlin.“ Da bekomme er Heimatgefühle, sagt er.

Die Menschen kommen gerne zu seinen Lesungen, ob in Hamburg oder Brigittenau. Seine Unterstützer halfen ihm auch durch die Coronazeit ohne Lesungen. Denn die Zettelgedichte kann man auch gegen ein wenig Gegenleistung per Post geschickt bekommen.

Man muss nicht immer selbst auf Jagd gehen — obwohl das natürlich auch seinen Reiz hat

Einige Orte, wo man leicht auf Gedichte trifft, wären der Siemenssteg über dem Donaukanal oder die großen U-Bahnstationen. Der Zetteldichter unterhält sich gerne mit den Pflückern über die Gedichte oder erzählt von seinen Töchtern. 

Im Alsergrunder Bezirksmuseum sollte letztes Jahr eine Ausstellung über ihn, sein Leben und die Zettelgedichte gezeigt werden. Doch für ihn war es schwierig, sich durch die Jahrzehnte von Gedichten zu kämpfen. Letztendlich kam die Pandemie dazwischen und die Ausstellung konnte nicht eröffnet werden. Stattdessen soll nun eine Vitrine mit seinen Zetteln und auch so manch einem Drohbrief im Museum permanent ausgestellt werden. Doch die Stadt bleibt sein wichtigstes Ausstellungsgebiet. 

Zettelpoesieren wie Helmut Seethaler kann kein zweiter. Und wie ihn gibt es auch kein weiteres Wiener Original. Ein bisschen grantig und doch herzensgut macht er sich nachts oder tagsüber auf, um etwas mit seinen Gedichten zu machen, was sonst noch nie jemand so gemacht hat und Wien ein wenig zu verschönern.

Lust auf Poetry to go? An den rot markierten Stellen wirst du bestimmt ein paar Zettel finden. Und mit etwas Glück sogar den Poeten selbst.

Bonus:

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