Aus dem Tagebuch eines Außenseiters
Wie die krude Gesellschaft mit Außenseitern umgeht - Christof Loys beeindruckender Peter Grimes im Theater an der Wien thematisiert Benjamin Brittens Homosexualität.
Benjamin Britten war schwul. Homosexualität durchzieht thematisch auf manchmal mehr und manchmal weniger deutliche Weise sein Werk. Neben Death in Venice (nach Thomas Mann) sticht sie in Peter Grimes vielleicht noch am deutlichsten hervor. Regisseur Christof Loy greift diesen Aspekt auf und zeigt ihn auf so fantastische, mitnehmende, entsetzliche Art, dass man nur von einem Geniestreich reden kann. Er verzichtet mehr oder weniger ganz auf Bühnenbild. Es geht nur um die Menschen. Bernd Purkrabeks Lichtregie ist avantgardistisch und detailreich.
Diese fürchterliche Macht der Gesellschaft!
Loy zeigt, wie die (dörfliche) Gesellschaft mit einem Außenseiter (in diesem Falle, mit einem Homosexuellen) umgeht und deckt gleichzeitig deren miese Doppelmoral auf. Es entsteht der Eindruck, als würde sich auf der Bühne eigentlich die Panik eines von der Gesellschaft nicht akzeptierten Menschen versinnbildlichen. Also die subjektive Angst vor der Reaktion der Gesellschaft, die im echten Leben nur leider wenig mäßiger an den Tag gelegt wird, als in der eigenen Befürchtung.
Die ausgesprochen burschikose Ellen Orford ist in Peter verliebt, ebenso ist es Balstrode. Diese beiden beschützen ihn immer wieder vor der meuternden Dorfgemeinschaft. Besonders Balstrode macht das so empathisch und menschlich berührend, dass es umso mehr überrascht, dass er sich so sehr zu Peters neuem Lehrling hingezogen fühlt. Diese sonst von einem Kind gespielte stumme Rolle wird hier von Tänzer Gieorgij Puchalski dargestellt. Kein Kind, sondern ein junger, wahnsinnig verführerischer Mann, dem Ellen noch widerstehen kann und dem sich Balstrode hingibt.
Die Zwischenspiele werden inszenatorisch sehr intelligent genutzt, um gewisse Geschichten weiterzuerzählen. Am eindrucksvollsten gelingt die sexuelle Annäherung zwischen dem neuen Lehrbub und Balstrode. Letzterer versucht zunächst noch zu widerstehen, dann überkommt ihn aber die Libido und es kommt zu ausgesprochen realistischem Annähern und Rummachen. In ihrer Intensität und Unumgänglichkeit ist diese Szene die wichtigste der ganzen Aufführung.
Hier wird dann das dargestellt, was der gesamte, großartig singende und spielende Arnold Schönberg Chor, alias die Gesellschaft, die ganze Zeit lang verurteilt. Wenige Momente der Freiheit, die dann ob ihrer minimalen Quantität ein Maximum an Intensität evozieren. Judith Weihrauch kreierte für die Damen und Herren sehr ansehnliche, zeitlos-moderne Kostüme. Peter Grimes hat ein Bett, das allerdings halb über dem Orchestergraben hängt (Bühne: Johannes Leiacker). Der ambivalente Sicherheitseindruck beschreibt auch Peters Psyche ganz genau. Immer zwischen Leben und Tod. Zwischen Aufsteigen und Fallen.
Anflüge von Tschaikowski zur britischen Scheinidylle
Das RSO brachte Brittens Partitur unter dem jungen, vor Energie nur so strotzenden Dirigenten Thomas Guggeis wahrlich zum Glühen. Der Maestro verstand es perfekt, den musikalischen Abwechslungsreichtum dieser Oper zu differenzieren und dann wieder zusammenzuführen. Uraufgeführt 1945, bietet dieses Werk englische Folklore, hektische Bläserausbrüche, ist dann manchmal doch erstaunlich melodisch und wirkt hin und wieder ebenso zerbrechlich und sensibel wie Tschaikowski.
Das künstlerische Betriebsbüro des TAW hat wirklich erstklassige Arbeit geleistet, die gesamte Besetzung kann sich mehr als sehen und hören lassen. Allen voran natürlich Eric Cutler als Peter Grimes. Kolossale Stimmführung: Mühelos das Pianissimo, voluminös die Ausbrüche. Der Sympathieträger schlechthin war Andrew Foster-Williams als markiger Balstrode. Agneta Eichenholz besitzt eine glasklare Höre, die ihr erst mal eine nachmachen soll. Hanna Schwarz als elegante Puffmutter Auntie und die köstliche Rosalind Plowright als Opiumsüchtige Mrs. Sedley sind sowieso Legenden. Ebenfalls überzeugend: Miriam Kutrowa und Valentina Petraeva (Nichten), Rupert Charlesworth (Bob Boles) sowie Edwin Crossley-Mercer (Ned Keene).
Langer und großer Jubel für diese bereits vor sechs Jahren gezeigte Aufführung (absolut lebendige szenische Einstudierung: Georg Zlabinger). 2016 wurde diese übrigens als „Beste Neuproduktion“ bei den „International Opera Awards“ ausgezeichnet und vom hiesigen Publikum als eine der besten drei Produktionen des TAW auserkoren. Spricht sehr fürs Publikum.