Bis zur Unendlichkeit und darüber hinaus

Die Ausstellung Genossin Sonne, als Teil der Wiener Festwochen, führt einen in einen kontemplativen, spekulativen Kosmos zwischen Revolution, Weltall und Kunst.

Wolfgang Mattheuer, Der Nachbar, der will fliegen, 1984, Foto: József Rosta / Ludwig Museum – Museum of Contemporary Art, Courtesy der Künstler, © Bildrecht, Wien 2024

Genossin Sonne hat mich als Ausstellungstitel erst verwirrt, wie wahrscheinlich die meisten von uns. Nach dem Besuch der Ausstellung fand ich den Titel dann eher anregend als irritierend. Er rückt zu Recht den Gedanken in den Vordergrund, dass wir Menschen nicht unabhängig agieren, sondern Teil eines Kosmos sind und damit abhängig von extraterrestrischen Umständen. Schlussendlich verdankt die gesamte Menschheitsgeschichte ihre Entwicklung der Sonne – unserer Genossin, Towarischtsch oder Comrade. Die Assoziation mit dem Leitthema "Revolution" der Wiener Festwochen ist geschaffen und damit auch zum Kommunismus und dem Kampf um Gleichstellung in der Gesellschaft. Aber wie versucht die Sonne uns, in diesem vielleicht utopischen Kampf zu unterstützen?

Revolution und All - die Theorien der russischen Kosmisten des 20. Jahrhunderts können diesen Zusammenhang beleuchten, zur Einordnung: Der Kosmismus ist eine philosophische Bewegung, die von Nikolai Fedorov mitbegründet wurde. Die Bewegung strebt danach, die Menschheit durch technologische, wissenschaftliche, aber auch künstlerische Fortschritte zu retten, wobei die Überwindung des Todes und die Eroberung des Weltraums zentrale Ziele sind. Der Kosmismus beeinflusste zahlreiche Wissenschaftler*innen, Revolutionäre und Künstler, darunter Vasily Chekrygin, dessen Werke auch zuletzt im Stedelijk Museum gezeigt wurden.

Mein erster Gedanke: Kann es im Jahr 2024 eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Kosmismus geben? Absurder als die Auferstehung aller Menschen und die Bevölkerung des Weltalls geht es nicht. Im Ausstellungsraum angekommen, beleuchtet von den frei im Raum stehenden Videoleinwänden, erlaubte ich mir jedoch, die Ideen des Kosmismus nur als Ausgangspunkt zu sehen, nicht als zugrunde liegendes Konzept, und verstand es, die Werke mit Humor und Tiefgang zu betrachten.

Genossin Sonne ist eine Ausstellung, die das Politische mit dem Poetischen verbindet, um lustvolle, spekulative Assoziationen über die Zusammenhänge zwischen dem Revolutionären, dem Himmlischen, der zeitgenössischen Kunst und ihren Einflüssen auf unseren Alltag anzufachen: ein immersives Szenario, dessen zeitliche Abläufe Momente der Ruhe und des Nachdenkens zulassen und das sich als Kritik, aber auch als Optimismus, Freude und Hoffnung für die Zukunft manifestiert.

Die Kuratorinnen Dr. Inke Arns und Andrea Popelka erinnern uns mit dieser heliozentrischen Ausstellung an die metaphorische und historische Bedeutung dieses Himmelskörpers. In dieser essayistischen Ausstellung wird der Raum zur Spekulation geöffnet: Gibt es etwa, wie die sowjetischen Kosmisten behaupteten, einen Zusammenhang zwischen erhöhter solarer Aktivität und irdischen Revolutionen? Wenn ja, würde das nicht nur bedeuten, dass wir als Menschen umso aktiver und bewusster handeln müssen? Was ist mit anderen non-humanen Akteuren wie den Ozeanen, sind wir nicht auch für sie verantwortlich, deren Überleben untrennbar mit unserem eigenen verbunden ist? Sind wir nicht auch Genoss*innen von Flora und Fauna? Betritt man den Ausstellungssaal, geht buchstäblich die Sonne auf. Als lichtbasierte Medien stehen vor allem Installationen und Videos im Vordergrund, die in ihrer Konstellation das Universum nachahmen. Die Kunstwerke führen uns von Themen der politischen Revolution bis hin zum metaphysischen Charakter von Kunst. Im Mittelpunkt der Ausstellung steht die Theorie des Kosmisten Alexander L. Chizhevsky, dessen Ideen sich gleich zu Beginn grafisch an der Ausstellungswand, aber auch im Werk von Anton Vidolke wiederfinden.

Für den sowjetischen Forscher war die Sonne Genossin und Gefahr zugleich. Als interdisziplinärer Wissenschaftler, Kosmist und Biophysiker begründete er die Heliobiologie, die den Einfluss der Sonne auf die Biosphäre untersucht, und studierte die Effekte der Luft-Ionisierung. Chizhevsky entdeckte, dass geomagnetische Stürme, die durch Sonnenaktivitäten hervorgerufen werden, die Funktionalität elektrischer Anlagen beeinträchtigen und Ereignisse wie Flugzeugabstürze und Heuschreckenplagen verursachen können. Zudem war er überzeugt, dass eine erhöhte negative Ionisierung der Atmosphäre die „Massenerregbarkeit“ steigere und der elfjährige Zyklus der Sonnenfleckenaktivitäten historische Ereignisse wie Revolten, Revolutionen und Bürgerkriege beeinflusse.

Diese Ausstellung fordert uns heraus, einerseits durch den merkwürdigen Einstieg mit Chizhevskys Theorie über den Zusammenhang von Sonnenaktivität und Revolutionen. Wobei sich dies vermutlich sehr einfach entkräftigen lässt. Andererseits verlangt sie uns ab, sich in eine Vielzahl wirrer Themen zu verlieren. Sie öffnet ein Rabbit-Hole für Diskussionen über Pseudowissenschaften und das Mystische – in diesem Fall die Erlangung von Einsicht in ultimative oder verborgene Wahrheiten durch Kunst. Diese Überwindung lohnt aber, denn einige Werke vereinnahmen durch Ironie, wie bei Gwenola Wagon und Suzanne Treister, während andere wiederum uns in einen tranceähnlichen Zustand der Kontemplation versetzen. Die Frage, inwiefern empirische Belege notwendig sind, um die Verbindung zwischen Sonnenaktivität und Wirtschaftskrisen zu stützen, bleibt fragwürdig. Dennoch war es für mich eine positive Erfahrung, weil ich die Ausstellung als eine Einladung betrachtet habe, in die Gedankenwelt der Künstler*innen einzutauchen. Gerade wegen der teils schrägen Auswüchse bietet die Ausstellung Genossin Sonne den perfekten Nährboden, um neue Perspektiven zu erwägen. Damit sind wir aufgefordert, mit unseren Gedanken bis zur Unendlichkeit und darüber hinaus zu gehen, wenn ich Buzz Lightyear zitieren darf.

Totale Sonnenfinsternis am 21. August 2017, Aufnahme: NASA/GSFC/SDO ©

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