Bohema Magazin Wien

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Breathless: Das Subjektive ohne Subjekt

James Bennings Breathless zeigt in einer Einstellung, wie Zeit sich dehnt und Raum sich verdichtet.

© James Benning / neugerriemschneider

Bevor James Benning anfängt Filme zu drehen, studiert er Mathematik. Die Einflüsse des Studiums manifestieren sich in den spezifisch formellen Elementen, unter welchen er seine Filme dreht. Die Anzahl der Einstellung, die Länge der Shots oder die Laufzeit des Films sind präzise im Vorhinein festgelegt und anhand dieser Parameter entsteht der Film. Benning ist ein radikaler Formalist, der zu den bekanntesten RegisseurInnen zählt, deren Fokus sich weg vom Narrativ bewegt. ProtagonistIn in den meisten seiner Filme ist das Americana, dieser vage Begriff für das ‚typisch US-amerikanische‘. Der aus Milwaukee, Wisconsin stammende Regisseur interessiert sich in seinen ersten Filmen für das sogenannte ‚fly-over-country‘ der USA. In diesen weiten, aber dünn besiedelten Gegenden lässt Benning Kultur und Natur aufeinandertreffen, wobei er den Menschen von der Leinwand verbannt. Seine Einstellungen ähneln der Hudson-River-School, jenen durch die europäische Romantik beeinflussten MalerInnen, deren Naturbilder Ende des 19. Jahrhunderts eine identitätsstiftende Wirkung hatten. Bennings Filme beinhalten auch oft Transiträume und Nicht-Orte, wie Autobahnen, Stripmalls und Parkplätze, die an Edward Hopper erinnern, wenn man aus seinen Bildern alle Menschen entfernt hätte.

Sein neuester Film Breathless besteht aus einer einzigen Einstellung, die eine Straße zeigt, welche durch die amerikanische Landschaft führt. Im Hintergrund befindet sich eine karge Felsenwand, links und rechts von der Straße, die an einem gewissen Punkt nach rechts abbiegt, sind Gebüsche und Bäume, die den Blick auf den weiteren Verlauf versperren. In der Kurve steht ein Laster mit StraßenarbeiterInnen, die gerade dabei sind einen auf die Straße überhängenden Ast von einem Baum zu sägen. In der Totalen erkennt man ihre Gesichter nicht. Man sieht kaum das Werkzeug, mit dem sie hantieren. Man hört es jedoch sehr deutlich. Der Lärm der Säge und des Automotors durchdringt die ganze Szenerie. Das herbstliche Orange der Blätter wird vom grellen Orange des Warnschilds „ROADWORK AHEAD“ übertrumpft. Die Dichotomie von Kultur und Natur ist in Bennings Filmen aufgehoben. Die einst gegensätzlichen Begriffe fallen ineinander, da es keine unberührte Natur mehr gibt. Der Idee des Anthropozäns entsprechend ist der Mensch selbst zur Naturgewalt geworden und wenn die Natur versucht ihren Platz zurückzuerobern, wird sie vom Menschen in ihre Schranken verwiesen. Im Vergleich zur Hudson-River-School sind Bennings Filme keine naturalistischen; es geht ihm nicht um eine Naturalisierung des Politischen, sondern um eine Politisierung der Natur.

Breathless ist, trotz der ungebrochenen Aufnahme, die auch nicht durch andere Spezialeffekte oder extradiegetische Musik (mit der Ausnahme, der letzten Minuten) beeinflusst wird, dennoch keine reine Darstellung der Realität. Es ist kein rein dokumentarischer Versuch der Repräsentation. Der Ausschnitt ist auch nicht zufällig gewählt, sondern präzise eingefangen. Erst nach einer Weile fällt einem auf, dass der Himmel nicht zu sehen ist. Die Straße ist kinematografisch gefangen zwischen Bäumen und dem kargen Felsen, der nach oben hin alles abschließt. Damit entwickelt er Filme eine subtile, beklemmende Enge, die sich auch darin manifestiert, dass man die genauen Dimensionen bzw. den räumlichen Aufbau der Szene nicht richtig durchblicken kann. Die Beschaffenheit der Szene funktioniert beinahe wie ein Vexierbild, bei dem die Dimensionen ineinander fallen. In der Kurve, neben dem Baum mit dem abgesägten Ast, steht ein Strommast. Selbst am Ende des Films fällt es einem schwer festzulegen, in welche Richtungen die Leitungen führen; hin zum Publikum oder weg von uns. Der Film erhält damit eine Freudsche Unheimlichkeit. Je länger man der Einstellung ausgesetzt ist, desto pervertierter wird sie, als ob man sein Gesicht zu lange im Spiegel betrachtet und dieses dadurch völlig verfremdet. Immer wieder glaubt man in den Schatten Bewegungen erkennen zu können.

Das bedeutendste Element in Bennings Filmen ist die Zeit. Die von Breathless verlangte Geduld und Aufmerksamkeit, wird aufgrund der Tatsache, dass es sich um einen non-narrativen Film handelt, noch einmal potenziert. Das Ereignis, ein verdichteter Plot – etwas geschieht – wird ersetzt durch ein Nicht-Ereignis – etwas vergeht – und übrig bleibt die Zeit. In unserer heutigen Gesellschaft, in der Schlagwörter wie Aufmerksamkeitsökonomie den Diskurs bestimmen, lenkt Benning unsere Aufmerksamkeit weg vom Ereignis und eröffnet neue Möglichkeiten einer subjektiven Erfahrung von Zeit. Gleichzeitig ist es kein autoritärer Film, der dem Publikum über einen komplizierten Plot zur Aufmerksamkeit zwingt, wie alle Benning Filme lädt auch Breathless zur Ab- und Ausschweifung ein. Die gedankliche Ablenkung ist kein Nebenprodukt, sondern erwünscht. Es ist jedoch keine Dauerberieselung wie sie die sozialen Medien propagieren. Man kehrt immer wieder zu dem Gezeigten auf die Leinwand zurück, weshalb Bennings Filme auch unbedingt im Kino gesehen werden müssen.

Zeit ist der Inbegriff des Messbaren. Sie existiert scheinbar nur über unsere Messgeräte. Dieser Empirismus, scheinbar durch Bennings Kamera eingefangen, fällt in sich zusammen, da er mit dem Gefühl der Dauer konfrontiert wird. Zeit ist eben mehr als nur zwei Zeiger, sondern ein objektiv subjektives Gefühl, das im Medium Film evoziert wird. In einer maximalistischen Definition lässt sich Zeit als Bewegung im Raum festlegen – die Erde bewegt sich um die Sonne und Zeit vergeht. Dieses räumliche Nacheinander wird im teleologischen Narrativ parallelisiert. Breathless verzichtet beinahe auf jegliche Bewegung. Die Kamera bleibt statisch und nur einzelne Personen und Objekte bewegen sich im Bild. Trotzdem wird die Zeit im Film fühlbar. Das subjektive Gefühl von Dauer wird ohne Subjekt – die Straßenarbeiter sind nie im Fokus und verschwinden auch nach kurzer Zeit aus dem Bild – und Bewegung als Reflexionsmöglichkeit hervorgerufen. Der Mensch ist nicht im Zentrum, sondern nur die Subjektivität.

Als ich einem Freund von dem Film erzählte, war seine Antwort darauf, dass das kein klassischer Film sei. Woraufhin ich mit der Frage entgegenhielt, was denn ein klassischer Film für ihn wäre. Gleichzeitig ist es sicherlich wahr, dass Breathless sich einer einfachen Konsumierbarkeit verschließt. Doch der Titel des Films, der von Godards Nouvelle Vague Klassiker mit dem selben Namen übernommen ist, und dessen exakte Laufzeit Benning übernimmt, verweist auf eine Art kollektive Gemeinsamkeit des gesamten Mediums. Benning stellt die Frage, ob Titel, Laufzeit und ein gemeinsames Musikstück nicht ausschlaggebender für einen ‚klassischen‘ Film sind als der Plot.