Exil vs. Mitlaufen
Ein russischer Currentzis mit Haltung? Wie der Gründer eines der besten Orchester der Welt weitermacht, nachdem er ins Exil gezwungen wurde. Michail Pletnjow im Musikverein.
Das Leben des Michail Pletnjow ist schon auf den ersten Blick romanreif. 1978 gewann er mit nur 21 Jahren den Tschaikowsky-Wettbewerb (zur Erinnerung, das fetteste Wettbewerb überhaupt), wurde so zum Klavierstar. Er befreundete sich 1990 mit Gorbatschow, mit dessen Hilfe er in den Wirren des Systemwechsels im gleichen Jahr das erste nichtstaatliche Orchester in Russland seit 1917 gründete. Ähnlich wie Iván Fischer in Ungarn, nutzte Pletnjow die Gunst der Stunde, indem er die besten Musiker*innen aus den kriselnden staatlichen Orchestern in seinem Russian National Orchestra versammelte und schaffte innerhalb von Monaten den Durchbruch: Die erste Platte wurde zum Bombenerfolg, das Orchester entwickelt sich zum wohl besten Orchester Landes, ganz wie Fischers Budapest Festival Orchestra. 2005 bekam es sogar einen Grammy für Prokofjews Peter und der Wolf, mit Bill Clinton, Gorbatschow und Sophia Loren (!!), als erstes russisches Orchester überhaupt.
Man höre sich nur den ersten Satz von Tschaikowskys Pathétique an (die besagte Debutaufnahme, ab 11:30 ballert es): Ist das nicht mindestens so konsequent und aufregend, wie bei Currentzis? À propos, Pletnjow liefert dem stummen Griechen das Gegenbeispiel in puncto Ukrainekrieg. Er weigerte sich, in einem Statement den Krieg zu unterstützen, verließ Russland und wurde vom Kulturministerium (dem das RNO seit der Wirtschaftskrise 2008 unterstellt ist) aus seinem eigenen Orchester geschmissen. Ich weiß nicht, auf welchem Niveau das Orchester lately war, nach all den Jahren ist das aber so oder so eine tragische Wendung.
Aus dem eigenen Orchester geschmissen? Dann gründet er eben ein neues
Aufgegeben hat Pletnjow aber nicht, im Herbst ging die Nachricht durch die Klassikwelt, er hätte ein neues Orchester gegründet. Im Rachmaninoff International Orchestra sollen unter anderem Exilmusiker*innen aus seinem RNO spielen. Geprobt wurde angeblich schon, auf konkrete Konzerttermine wartete man bisher aber vergeblich.
Dafür kam er am Samstag immerhin persönlich nach Wien und gab im Musikverein ein Solokonzert. Gut möglich, dass er mit dem Gewinn der Tour sein Orchesterprojekt vorantreiben möchte, ähnliches tat er schon für das RNO in Krisenzeiten. Allzu groß dürfte der Erlös aber leider nicht ausfallen, der Goldene Saal war kaum mehr als halb voll. Zunächst ist das ein Armutszeugnis für Wien, eine Klavierlegende derart zu düpieren. Es gibt allerdings gute Gründe: Am ersten Tag der Semesterferien waren wohl viele schon auf irgendwelchen Pisten, um die Schneechancen der kommenden Winter noch weiter zu verringern. Zudem war der Musikverein gar nicht der Veranstalter, eine externe Agentur hat nur bedingt die Möglichkeit, last Minute die Auslastung mit Regie- und Freikarten zu frisieren.
Kein Klassikstar ohne Kontroverse
Und dann ist da noch die Thai-Geschichte: 2010 wurde Pletnev in Thailand von den Behörden beschuldigt, einen 14-Jährigen sexuell molestiert zu haben. Er dementierte und kooperierte mit den Ermittlungen, die nach einigen Wochen ohne Anklage eingestellt wurden. Im Nachhinein war die Rede von der russischen Mafia, die in der Gegend, wo Pletnjow auch unternehmerisch aktiv ist, die Konkurrenz ausschalten wollte. Die fallengelassene Anklage könnte man allerdings auch mit Druck vom russischen Staat erklären, dem Pletnjow damals noch wichtig war. Wie dem auch sei, seitdem geistert diese Geschichte mit, wenn er irgendwo auftritt.
Diejenigen, die das Konzert nicht verpasst haben, wurden musikalisch jedenfalls fürstlich entlohnt. Technisch ließ sich Pletnjow seine 65 Jahre nicht anmerken, musikalisch aber sehr wohl. Brahms drei Intermezzi Op. 117 strahlten eine vollendete Altersweisheit aus, die an Altmeister wie Sokolov erinnerte. Besonders interessant ist der Vergleich mit Ivo Pogorelich. Nicht nur, weil die beiden fast gleich alt sind und sich seit ihrer Studienzeit in Moskau, als sie im gleichen Wohnheim lebten, kennen, sondern auch, weil Pogo bei seinem letzten Konzert in Wien im Mai ebenfalls Chopins Faintaisie Op. 49 und die Polonaise-Fantaisie Op. 61 spielte.
Old Buddies playing Chopin
Pletnjow gönnte sich nicht ganz so viele exzentrische Freiheiten, wie der Ex-Posterboy der Klassik und rutschte beim Spielen auch nicht so tief in eine musikalische Depression. Ganz außergewöhnlich war der schimmernd-schwebender Anschlag Pletnjows, ein wahres Unikat, das man zumindest einmal im Leben live hören muss. Mit Pogorelich verband ihn, dass er auf Applaus offensichtlich keine Lust hatte, es war recht unterhaltsam, wie er mit einem ruhigen Lächeln nur kurz winkte, um in seiner so mühelos perfekt wirkenden Spielweise einfach weiterzuspielen, statt den Applaus ausklingen zu lassen. Daumen gedrückt, dass er seine zweite Orchestergründung mit dem gleichen unaufhaltbaren Phlegma erfolgreich durchzieht.