Getting away with murder (again)

Premiere von „Extrem teures Gift“ im Kasino am Schwarzenbergplatz: Die tödliche Vergiftung eines Kreml-Kritikers lässt wünschen, sie wäre Fiktion.

Dietmar König als eiskalter Diktator /// (c) Matthias Horn

„I thank my wife, Marina, who has stood by me. My love for her and our son knows no bounds.”

Marina Litwinenko - Mit ihr beginnt und endet der spannungsgeladene, von Martin Kušej inszenierte Theaterabend „Extrem teures Gift“ im Kasino des Burgtheaters. Marina, gespielt von Sophie von Kessel, ist die Ehefrau des ehemaligen FSB-Dissidenten Alexander Litwinenko (Daniel Jesch), welcher 2006 nach einem Giftanschlag der russischen Regierung durch Polonium 210 in London verstarb. Sie steht im Zentrum der Geschichte und führt die Ermittelnden und das Publikum durch die schicksalshaften Geschehnisse. Die echte Marina Litwinenko sitzt bei der Premiere im Publikum und bekommt am Ende Standing Ovations. Die Emotionen im Raum sind spürbar.

Ein Mensch als tickende Zeitbombe

Marina bringt den sichtlich schmerzerfüllten Sascha (so wird Alexander von den anderen Figuren genannt) in ein Londoner Krankenhaus. Sophie von Kessel spielt die wachsende Wut und Verzweiflung hervorragend, während die Handlung zwischen der Zeit nach der Flucht der Familie und dem Russland der 1990er Jahre hin- und herspringt. Kurz nach dem Zerfall der Sowjetunion herrscht Chaos im Land. Die Korruption wächst, die Menschen verzweifeln. Die Regierung beschattet Oppositionelle und vertuscht Straftaten. Sascha will gegen das System kämpfen, er weiß nicht, dass ihn das sein Leben kosten wird. Im Schnelldurchlauf und mit sparsamem Einsatz von echtem Bild- und Videomaterial sehen wir seine Karriere – von seinem Glauben an Putin (Dietmar König) als neuen FSB-Chef bis zu einem Mann, der seinen eigenen Mord ermitteln muss, um etwas zu verändern.

Die Temperatur im Kasino ist ironischerweise niedrig. Das Bühnenbild ist minimalistisch, dadurch erhalten die persönlichen Beziehungen mehr Raum. Schicksale erhalten mehr Raum. Weiße Tische bilden eine große Fläche, die nicht nur den Konferenztisch, sondern eine ganze Palette an Bildern generiert. Man könnte fast meinen, dass dieser große Tisch selbst ein Darsteller sei. So ist er etwa Krankenhausbett oder Tanzfläche auf der Sascha das erste Mal von Mitläufern der Regierung angegriffen wird. Und nach dem Präsidentenwechsel von Jelzin zu Putin ist der Tisch nur mehr im Doppelpack mit ihm zu denken: Stets im Hintergrund, seine Augen und Ohren überall, immer präsent in den Leben der Menschen. Dietmar König als Putin hat buchstäblich Blicke drauf, die töten können.

What dreams are made of?

In einer düsteren Szene taucht Putin in Marinas Traum auf. Dabei wird die Bühne in blutrotes Licht getaucht. Kušej versetzt uns in die Gefühle einer verzweifelnden Frau und Mutter, die der Sicherheit ihrer Familie die höchste Priorität zuschreibt – eine Sicherheit, die, wie wir lernen, sehr schnell ihr Selbstverständnis verlieren kann.

Wie die letzten Volltrottel werden hingegen die zwei Mörder Andrei Lugowoi (Tim Werths) und Dmitri Kowtun (Johannes Zirner) inszeniert – nur wenige Male trauen sich die Zuschauer*innen zu lachen. Etwas witzig zu finden, scheint in diesem Kontext unnatürlich und fehl am Platz, es bleibt ein mulmiges Gefühl. Gerade das erzielt die Farce-artige Inszenierung: Das Lachen soll uns im Hals stecken bleiben.

Es handelt sich bei „Extrem teures Gift“ um viel mehr als einen Krimi. Der Fokus liegt nicht nur auf dem Opfer, sondern ebenso auf seiner Frau und deren Beziehung. Daniel Jesch und Sophie von Kessel stellen die grenzenlose Liebe und gegenseitige Unterstützung auch mit Blick auf ihren Sohn Anatoli, welcher erwähnt, aber nicht sichtbar gemacht wird, rührend dar. Doch selbst bei den wenigen Liebesszenen befindet sich Putin ohne eine Wimper zu zucken im Hintergrund – eine bedrückende, stetige Präsenz.

Die Geschichte weiterzutragen - das sei das Ziel der echten Marina, wie sie bei einem Probenbesuch erklärt. Es ist also nicht verwunderlich, dass sie am Ende mit Tränen in den Augen vor einem ausverkauften Burgkasino-Publikum steht und die Schauspieler*innen – allen voran Sophie von Kessel – dankbar umarmt.

16 Jahre ist dieser Fall nun her. Die Figur Marina appelliert am Ende des Stücks daran, dass man auf sich aufpassen solle. Im Interview des Programmhefts spricht Marina Litwinenko davon, wie aktuell der Fall sei:

„Wir verließen Russland im Jahr 2000. Aber jetzt, 22 Jahre später, versuchen Millionen von Menschen, aus Russland zu fliehen und Millionen versuchen, aus der Ukraine zu fliehen.

„Extrem teures Gift“ ist ein gelungener Abend geprägt von unterschiedlichen Theatergenres: Er ist weder purer Krimi noch oberflächliche Komödie. Basierend auf realen Ereignissen sorgt er für mehr als nur eine unangenehme Gänsehaut.

Zwar wird auch über den Anschlag auf Nawalny in den Medien immer weniger gesprochen, doch trotzdem muss man sich vor Augen führen, dass solche Fälle repräsentativ für die Morde an unzähligen Kreml-Kritiker*innen sind. Und wenn wir, gemeinsam mit den Schauspieler*innen, auf das bekannte Foto Litwinenkos kurz vor seinem Tod schauen, welches im Dunkeln auf der Wand über dem Bühnenbild flimmert, dann appellieren hoffentlich nicht nur Kušej und die Familien der Opfer daran, dass sich verdammt nochmal etwas ändern muss.

“Extrem teures Gift” ist noch am 17. Dezember, sowie am 15., 20. und 29. Januar 2023 im Kasino zu sehen.

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