Let´s Talk About Sex, Baby
Über Sexarbeit, reversed film tropes und wie es dieser Film in meine All-Time-Favourites geschafft hat.
Es war irgendwann im Februar oder März dieses Jahres, dass ich ein Video von einer Berlinale Pressekonferenz (unten) mit Emma Thompson gesehen habe und ich wusste: Ok, den Film mit ihr muss ich einfach sehen. Sprung auf ein halbes Jahr später, ich bin zuhause in meinem liebsten Kino und ich komme endlich dazu, Meine Stunden mit Leo anzuschauen.
Es geht um…
Nancy, eine pensionierte Lehrerin Nancy (Emma Thompson), bucht für ein paar Stunden ein Hotelzimmer und den Sexarbeiter Leo (Daryl McCormack), um Erfahrungen aufzuholen, die sie mit ihrem mittlerweile verstorbenen Mann nie machen konnte.
Es geht um Erwartungen, wie Männer mit Frauen und Frauen mit Männern umgehen, wie Sexarbeit funktioniert. Dass diese nicht nur in rot beleuchteten Räumen mit Samtbezügen auf dem Bett stattfindet und irgendwie unanständig sei oder immer nach Schema F abläuft. Dass sich Männer nicht hart und emotionslos (aka Christian Grey) präsentieren müssen, um männlich zu wirken. Hier geht es um eine echte und aufrichtige Begegnung zwischen zwei Menschen. Auch darum, warum Sexarbeit ein Teil der öffentlichen Carearbeit sein sollte, was den Film politisch macht, denn das Private ist politisch (hat jedenfalls eine Theatergeschichtsprofessorin immer zu uns gesagt). Denn wäre die Gesellschaft nicht insgesamt zufriedener, wenn alle Zugang zu Sex hätten?
Nach diesem Film kann niemand mehr sagen, dass Consent nicht sexy sein kann
Wie die beiden Figuren (und Spieler*innen) miteinander umgehen, hat viel mit der Regiearbeit von Sophie Hyde zu tun. Laut Interviews gab es neben intensiven Proben vor dem Dreh (was ja am Set eher selten ist), die die körperliche Beziehung zwischen Thompson und McCormack geschaffen haben, auch Recherchearbeit und Gespräche mit unterschiedlichen Sexarbeiter:innen, die den Film in der Realität verankern konnten.
Und was so schön zu sehen war: Es ging nicht direkt um Consent, denn der wurde als Status Quo dargestellt. Die beiden Charaktere im Film haben sich also gegenseitig immer gefragt, ob es ok ist, z. B. einen Kuss auf die Wange zu geben, oder die andere Person an einer bestimmten Stelle zu berühren.
Intimität beim Sex und beim Reden über Sex
Denn das war der Film. Aber nicht auf eine aalglatte, perfekte Art, die wenig mit meinem Leben zu tun haben kann. Die beiden - denn die meiste Zeit sind es nur Emma Thompson und Daryl McCormack auf der Leinwand - machen in ihren Figuren immer wieder komische kleine Dinge (einen Mars-Riegel essen) oder eben auch Fehler. Am Ende, als ich aus dem Saal ging, habe ich sie nicht durchschaut und deswegen werde ich sie jetzt nicht mehr los. Es blieb einiges ungesagt.
Viele in meinem Umfeld haben von diesem Film schon gehört, sich aber noch nicht getraut, ins Kino zu gehen, weil der Trailer das Thema des Films ziemlich klar zeigt - es geht um klare und offene Kommunikation, was Sex betrifft - und das könnte doch komisch sein, wenn man das dann mit einigen anderen im Kinosaal gemeinsam erlebt. (Als wären vor ein paar Jahren nicht alle zu Fifty Shades in die Kinos gegangen, aber ok). Manche Dialoge von Katy Brand (Drehbuch) hatten fast etwas Therapeutisches für mich, was mich erst irritiert hat, dann dachte ich mir: Ja stimmt, es ist irgendwie immer noch komisch, offen über Sex zu sprechen. In Coming-of-Age-Filmen sprechen die Protagonist:innen von ihren ersten Schmetterlingen im Bauch oder vom ersten Mal (gutes Beispiel hierfür: Sex Education oder Never Have I Ever).
Gender-reversed Pretty Woman
Ein großer Punkt in diesem Film ist das weibliche Bild von Schönheit, v.a. in Bezug auf Alter. Ab wann wird eine Frau unsichtbar? Thompson meinte in einem Interview, dass ihr der Film so wichtig sei, weil Nancy sonst die Rolle wäre, die neben dem Protagonisten existiert. Die als Ehefrau oder Mutter unterstützt, um die es aber nie gehen wird. Jetzt schon. Und gleichzeitig ist es eine Darstellung und eine Figur, die ich als 24-Jährige verstehen kann. Unsicherheiten, Unbeholfenheiten, Zweifel, Ängste.
Eine genaue Auflistung von Stellungen und Praktiken, wie Nancy sie komplett unironisch in diesem Film macht, habe ich so noch nie gesehen. Zwei erwachsene Personen unterhalten sehr konkret darüber, was sie miteinander machen wollen und werden, was davon ok ist und was nicht. Ich korrigiere: Eine ältere Frau sagt in diesem Film vor allem, was sie will. Ist es deswegen sofort ein Tabu? Erst jetzt beim Schreiben kommt mir der Gedanke, dass es in gewisser Weise ein gender-reversed Pretty Woman ist. Der Unterschied hier ist aber, dass es nicht darum geht, dass sich die beiden Protagonist:innen am Ende ineinander verlieben (Sory, Spoiler). Es geht auch nicht um Macht oder dass der Sexarbeiter arm ist und deswegen diese Arbeit macht. Nein, er macht sie gerne. Es geht um Offenheit, Mut und Intimität.
Klar, am Ende bleibt dieser Film eine Fantasie, für die ich (in Form einer Karte) bezahlt habe (so beschreibt Leo seine Arbeit), aber trotzdem wirkt er realistischer als viele andere Filme, in denen es explizit um Liebe und Sex geht.