Graffiti gegen graue Tage
Das wahrscheinlich größte Museum Wiens ist auch im Lockdown geöffnet und zeigt, dass Graffiti nicht gleich Vandalismus ist, sondern vielfältige und notwendige Kunst sein kann- ein Spaziergang entlang des Donaukanals.
Erneuter Lockdown. Das heißt viele Freizeitangebote, die uns den Alltag versüßen, fallen weg. Sei es das Schwimmbad, das Kino, das Fitnessstudio - oder das Museum. Doch das stimmt nicht ganz. Ein Museum in Wien bleibt nämlich 24 Stunden am Tag und sieben Tage die Woche geöffnet und ist dazu noch gratis. Gemeint ist natürlich der Donaukanal. Mit seiner Länge von 17,3 Kilometern könnte man ihn wohl sogar als das größte Museum Wiens bezeichnen.
Der Donaukanal ist als Museum ganz gut in fünf Räume aufzuteilen:
Raum unterm Nußdorfer Knoten
Der Raum unterm Nußdorfer Knoten ist direkt ein highlight und ein Grund, weswegen sich der Donaukanal mit Fug und Recht Museum nennen kann. Hier finden sich großformatige Graffitis, von klassischen Hiphop- bis hin zu kunstakademischen Stilen. Aufgrund seiner einigermaßen abgelegenen Stelle ist der Raum unterm Nußdorfer Knoten ein Geheimtipp, bei dem Graffitis deutlich seltener gecrossed werden, sodass man seine Lieblinge auch noch Monate später wiederfinden kann. Zudem ist die Szene sehr regional und man findet viele Wiener Graffitigrößen, wie Jakob der Bruder, King, Ruin, Friend…
Spittelauer Raum
Der Spittelauer ist der kleinste der von mir genannten Räume. Er erstreckt sich etwa vom Döblinger Steg bis zur Friedensbrücke. Hier finden sich ein paar sehr besondere Pieces, darunter ein Bild einer der bekanntesten Berliner Crews „One United Power“ (1UP). Auch hat man einen Blick auf ein Graffito des Berliner Künstlers Ikarus. Das Piece befindet sich senkrecht an einem Hochhaus beim Donaukanal, von dem sich der Künstler fürs Malen abgeseilt hat. Auch befindet sich hier das Zaha-Hadid-Gebäude welches, wie das P+R-Spittelau, von Künstler*innen großformatig bemalt ist. Die von Friedensreich Hundertwasser gestaltete Verbrennungsanlage Spittelau ist von hier auch im Blick.
Raum Friedensbrücke
Nun kommen wir langsam zu den höchstfrequentierten und bekanntesten Räumen des Donaukanals. Im Raum der Friedensbrücke ist der Stil deutlich Hip Hop-lastiger als in den vorigen. Der Raum erstreckt sich etwa von der Friedensbrücke bis zur Augartenbrücke. Hier findet man kleinere Pieces, auch von unbekannteren Künstler*innen, jedoch wird der Donaukanal ab hier deutlich politischer, vielfältiger und vor allem sind ab diesem Teil des Kanals die freien Flächen von oben bis unten bemalt.
Der Raum um den Schwedenplatz und nach der Urania
Der Raum um den Schwedenplatz erstreckt sich von der Augartenbrücke bis zur Urania und von der Urania bis zur Franzensbrücke. Wir sind jetzt im Kern des Freilichtmuseums angekommen. Man findet alles, von zahllosen Tags, über kleine Pieces bis hin zu großformatigen Bildern und Murals, die sich eines nach dem anderen gegenseitig übertreffen. Thematisch bewegen sie sich zwischen politischen Statements, Ästhetik und Antistyle. Viele der Graffitis könnte man ins Leopold, Albertina oder Mumok hängen, ohne dass es auffallen würde. Stunden kann man vor einzelnen Motiven stehen, erraten was dort steht, bestimmte Künstler*innen suchen oder einfach nur verträumt das Farbenmeer betrachten. Auf der Leopoldstädter Seite, zwischen Schwedenbrücke und Aspernbrücke, findet sich auch noch ein kleiner Skulpturen-Park.
Bevor Du dich warm eingepackt selbst auf einen Spaziergang begibst, gibt Dir die folgende Slide Show einen Vorgeschmack auf die bunte Kunst am Kanal.
Graffiti-ABC
Mural: Großformatiges, aufwändiges Bild; oft legal und geplant.
Piece: Aufwändig gestalteter Schriftzug.
Tag: Die Signatur der Sprayer*innen.
Throw-Up: Schnell ausgeführter Schriftzug.
Crossen: Das Bild von jemand anderem übermalen/zerstören.
Die Relevanz von Graffiti im öffentlichen Raum- ein Kommentar
Die gesellschaftliche Relevanz von Kunst- seien es nun Museen, Theaterstücke, Musik, Performances, Bücher- wird seit jeher postuliert. Kunst kann Normen durchbrechen, provozieren und auf Missstände aufmerksam machen. Doch wenn ich an Situationen denke, in denen ich durch ein europäisches Museum lief, fällt mir ein großes Problem der Kunstwelt auf: das Klientel, es besteht fast ausschließlich aus wohlhabend, weiß, akademisch. Aber wie kann etwas gesamtgesellschaftlich relevant sein, das hauptsächlich von Menschen produziert und konsumiert wird, welche in dieses Muster passen? Müsste das Publikum nicht genauso vielfältig sein, wie die Passanten in den Straßen der Stadt, oder eben die Spaziergängerinnen am Donaukanal? Es stellt sich die Frage, wie die Menschen Kunst auf- und wahrnehmen, was sie als Kunst ansehen und wie man dafür sorgen kann, dass Menschen einen Zugang zu Kunst erhalten.
Was bleibt über, wenn man nicht ins Theater, Museum, die Oper oder in die Philharmonie geht? Wenn diese einfach wegfallen? Der Lockdown zeigt uns mit aller Härte wie es ist, wenn das normale Kulturprogramm nicht verfügbar ist.
Es sind Gebäude, Statuen, Fassaden - kurz der öffentliche Raum, welcher aber bleibt. Und in diesem ist Graffiti die Kunst, der wir nicht entgehen können, die jede sieht, und mit der jeder konfrontiert wird. Graffiti provoziert, durchbricht die Normen und gibt Künstlerinnen und Minderheiten die Möglichkeit Kunst auszustellen, welche sie anders vielleicht nie gehabt hätten. Wie oft hat man über Fassaden oder Statuen schon angeregt diskutiert. Fast jeder hat schon einmal über ein Graffito, sei es im positiven Sinne, weil es z.B. sehr schön ist, oder auch im negativen Sinne geredet. Man stimmt nicht mit der Darstellung, dem Inhalt etc. überein, regt sich vielleicht sogar auf. Und solche Polarisierung ist etwas, was Kunst zu großem Teil auch ausmacht, wobei Graffiti oft am Ehesten noch als Dekoration, jedoch nicht als explizite und ernstzunehmende Kunst angesehen wird. Viele denken sich nun bestimmt, Graffiti sei doch aber (meist) illegal, man beschmutze Eigentum anderer oder es gefalle einem schlichtweg nicht. Dies mag zum Teil zutreffen, aber jede Farbe an einer Wand, die dort eigentlich nicht vorgesehen war, gleich als Vandalismus abzutun, ist ein völlig falscher Ansatz. Graffiti-Kunst gestaltet unseren öffentlichen Raum positiv mit, öffentliche Wände werden zum Sprachrohr und zur Leinwand. Kunst kann sich in Form von Graffiti ausleben, ohne von Geld abhängig zu sein oder von der gesellschaftlichen Stellung der meist anonymen Sprayer*innen.
Was verwandelt den Donaukanal von grau in bunt? Graffiti! Was bleibt über, wenn Museen, Theater, Opern, Philharmonien schließen? Graffiti!