“Heimat ist der Tod, mein Arsch ist offen rot”

Kommen Sie herein, erleben Sie Glamour, Glanz und Überzeichnung, im roten Wien der Sodom Vienna Revue!

(c) Sarah Hauber, brut Wien

Zu sehen: Ein roter Teppich und ein Klavier vor einem dunkelblauen Vorhang. Das Licht geht aus und aus einer Tür tritt Denice Bourbon, in rote Spitze gewandet und mit schillernder Badehaube auf dem Kopf. „Gar kein Applaus?“ möchte sie vom Publikum wissen und setzt damit den Ton für den Rest des Abends. Energiegeladen, glamourös und frech führt sie durch die Sodom Vienna Revue, die sich mit dem Wien der 1920er Jahre auseinandersetzt. Und das war, wie man an der Lieblingsfarbe der Inszenierung sieht, vor allem eins: rot.

Wild und hedonistisch und queer wird Wien hier präsentiert, durch Anekdoten vor dem Vorhang und Musicaleinlagen dahinter. Die Bühne, übrigens, braucht hier keine ausufernde Ausstattung, das schaffen die Performer*innen ganz alleine. Das Bühnenbild kommt auffallend schlicht daher, aber mehr als das aufgeblasene rote Arschloch in Blumenform braucht es auch gar nicht. Unerwarteter Weise kommt die Revue trotz Slogans wie „Mein Arsch ist offen rot“ allerdings recht unaufgeregt und wenig derb daher. Hier geht es nicht darum, zu schockieren, das schafft die Vergangenheit ganz für sich allein. In einer Mischung aus wienerischem Englisch, Denglisch und Deutsch widmet sich die Revue anekdotisch den Biografien von Wilhelm Reich, Sigmund Freud, Anna Freud, Anita Berber (Veza Férnandez) und auch Josephine Baker (Denise Palmieri). Die beiden letzteren waren zwar keine Wienerinnen, machten auf Tourneen aber immer wieder Zwischenstopps im wilden Wien.

Freud und die weibliche Homosexualität

Der Psychoanalytiker Wilhelm Reich bekommt hier (verkörpert von Gin Müller) eine Plattform, seine Orgontheorie zu beleuchten. Das Orgon, laut Reich eine Art orgastische Energie, könne Krebs verursachen. Zumindest dann, wenn seine Pulsation durch den Körper gestört wird, diese Störung läge in der Unfähigkeit des Organismus begründet, sich den orgastischen Zuckungen völlig hinzugeben. Allerdings scheint etwas schiefzugehen, nachdem er den Orgonakkumulator betreten hat: Er explodiert in einen Song mit Backup-Tänzer*innen.

Sigmund Freud (herrlich neurotisch verkörpert von Stefanie Sourial) beginnt seine Zeit im Scheinwerferlicht hingegen hinter dem Publikum. Er stellt sich als das Unterbewusste vor, das gerne von hinten kommt. Nach seinem Abstieg bis hinunter zum roten Teppich vor dem Vorhang setzt er dem Publikum einen Fall weiblicher Homosexualität auseinander. Ein Mädchen habe sich in eine Baronin verliebt und ihre Eltern hatten sie nach einem überlebten Selbstmordversuch zu ihm in Therapie gegeben. Freuds Theorie: ganz klar, das Mädchen habe in ihrer GAYliebten männliche Anteile entdeckt, sie habe also ab einem bestimmten Punkt den Wunsch gehabt, mit ihrem Vater ein Kind zu zeugen. Um dieser inzestuösen Vorstellung zu entkommen, habe sie ihr Verlangen auf die GAYliebte übertragen.

(c) Sarah Hauber, brut Wien

Anna Freud bekommt keine eigene Verkörperung, ihr Leben wird von Denise Bourbon zusammengefasst, ihr Wunsch nach Bestätigung durch die Eltern und wie ihr Vater Sigmund Freud ihr das in der Psychoanalyse (sechs Tage die Woche um zehn Uhr abends) als Penisneid auslegt. Durchaus verständlich, dass sie sich danach für Kinderpsychologie zu begeistern begann. Tragisch aber auch, dass sie ihr jahrzehntelanges Zusammenleben mit einer Frau, Dorothy, und deren Kindern immer als definitiv nicht lesbische Lebensgemeinschaft von sich wies. Nebenbei bemerkt, alle drei erwähnten Persönlichkeiten mussten aus Wien vor den Nazis fliehen.

Mit dem Speedo im jüdischen Wien

Neben der damaligen roten Entwicklung Wiens kommen auch Events wie Massengymnastik im Prater und die jüdische Prägung des Kulturbereichs zur Sprache. Allein auf der Praterstraße fünfzig jüdische Theater! Ach und sagt jemandem der Lobau-Fetzen etwas? Laut der Sodom Vienna Revue ein Vorläufer der Speedo-Badehose.

Die Revue besticht durch Glamour, makellosem Timing und herrlichen Überzeichnungen, wie etwa die Darstellung von Sigmund Freuds Kokainkonsum: mag er zuerst nur angedeutet sein durch recht eindeutige Schnupfbewegungen, verteilt Freud in einer späteren Szene eine weiße Linie diagonal über die Bühne, die mit einer überlebensgroßen Kreditkarte in Form gebracht wird. Und, schöner kann es nicht mehr werden, Freuds personifizierte Nase kümmert sich darum und saugt den weißen Staub restlos auf. Mit einem Staubsauger. Ebenso brilliert Stefanie Sourial darin, seine Aussprache so zu überzeichnen, dass sich das Wörtchen „gay“ immer wieder einschleicht, als er versucht, die weibliche Homosexualität weg zu erklären. Huch, das muss wohl ein Freudscher Versprecher gewesen sein...

War das wirklich alles so?

Der einzige, notwendige Bruch mit dem roten, queeren, wilden Wien für alle ist jedoch der Geist des Vorhangs im blauen Gewand (verkörpert von Hyo Lee), der im Vergleich zu anderen so lange nicht gesehen, geghosted, wurde, bis er selbst zum Geist wurde. Dieser Geist verkörpert durch das Stück hindurch all jene, deren Namen nicht mehr bekannt sind. Und er hat auch eins der letzten, wichtigen Worte des Stückes: „Willkommen in Wien, where everyone is seen and nobody is forgotten“. Ein hohlringendes Lob von einem Geist, den niemand sieht.

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