„I must have been unconscious“

Das war kein Konzert. Es war ein Versuch, der Vergangenheit zu gedenken, zu erklären, was Musik nach dem Holocaust bedeutet. Eine dramaturgische Meisterleistung und zutiefst erschütternd. Ein intensiver Abend im Wiener Konzerthaus.

Auschwitz /// Wikimedia (c)

Eine halbe Minute hält Dirigent Constantinos Carydis die Spannung im großen Saal des Konzerthauses, nachdem der letzte Ton verklungen ist. Niemand atmet, und erscheint einem auch zu profan nach diesem Konzert. Die Wiener Symphoniker präsentieren zusammen mit der Wiener Singakademie am Montagabend ein Programm, das sich in verschiedenen Dimensionen mit dem Zweiten Weltkrieg, insbesondere der Judenvernichtung, auseinandersetzt. Das zentrale Werk des Abends ist Arnold Schönbergs A Survivor from Warsaw op. 46 aus dem Jahr 1947. Die zehnminütige vertonte Erzählung wird in ein Programm eingebettet, das den christlichen und jüdischen Glauben angesichts der Gräuel des Zweiten Weltkriegs infrage stellt.

Vor der Pause erklingt die Christus Symphony von Charilaos Perpessas, eine Tondichtung in sechs ineinandergreifenden Sätzen über zugrundeliegende Bibelworte. Perpessas, ein Schönberg-Schüler, der so gar nicht wie sein Lehrer komponierte, malt mit einem groß besetzten Orchester bunte und bedrohliche, fragende und lobpreisende Bilder in den Raum. Die Symphonie ist eine tonale Collage aus Bruckner‘scher Monumentalästhetik und Filmmusik, expressiven Glissandi und Tremoli und darauffolgenden hymnisch-melodischen Abschnitten. Am Ende des Werkes steht ein Choral in Liedform, der zunächst von einem Streichquartett vorgestellt wird, von Dur nach Moll und wieder nach Dur kippt, wiederholt und gesteigert wird und letztendlich das Ende im Himmel erreicht. Bei diesem biblischen Überfluss zwischen Apokalypse und Apotheose bleiben Dirigent wie Orchester sachlich, glasklar in den rhythmischen Betonungen und progressiv in ihrem Drive.

3 in 1

Der dramaturgische Kunstgriff der zweiten Konzerthälfte wurde mir erst am Ende des Konzertes bewusst. Nach einer A-Capella-Chormotette erklingen die drei folgenden Werke, Schönbergs A Survivor from Warsaw, Bernsteins Chichester Psalms und Charles Ives‘ Orchesterminiatur The Unanswered Question ohne Pause, aneinander anschließend, aufeinander reagierend. Und damit entsteht an diesem Abend im Konzerthaus nicht nur ein weit aufgespannter zusammengehöriger Klangraum, sondern auch eine kontinuierliche Erzählung. Diese stellt alle performativen und kompositorischen Beobachtungen in den Hintergrund.

Wer kann über Schönbergs Reihentechniken nachdenken, wer über die Unsauberkeiten im Chor, wenn direkt an die bedrückende Erzählung aus dem menschenvernichtenden Warschauer Ghetto das jüdische Glaubensbekenntnis anschließt? Wer kann den fabelhaften Sprecher Thomas Quasthoff oder die opernhafte Varianz der Chichester Psalms angemessen würdigen, wenn das doch alles die Suche nach einer Antwort ist; die Antwort auf die Frage: Wie konnte es zu dieser größten humanitären und politischen Katastrophe des 20. Jahrhundert kommen?

Eine tongewordene Frage nach dem Sinn

Die Frage bleibt heute unbeantwortet, The Unanswered Question, nennt Charles Ives‘ seine Kontemplation für Streichorchester und räumlich davon getrennten Bläsersolist*innen. Das Orchester erfüllt den Raum mit statischen Harmonien in weiter Lage, der Klang scheint sich vom Orchester zu lösen und bildet einen transzendenten Teppich für die schiefen, queren, asymmetrischen Einwürfe der Trompeten und Flöten, die tongewordenen Fragen nach dem Sinn. Der große Saal des Konzertsaals wird abgedunkelt und andächtig verarbeiten Publikum wie Musiker*innen die Welt aus Hoffnung und unsäglichem Leid, aus Glauben und Einsamkeit, die sich in der vergangenen knappen Stunde eröffnet hat.

„I must have been unconscious“ ist nicht nur der rondoartig wiederholte Satz in A Survivor from Warsaw. Es ist auch die Paralyse des Publikums, der ungläubige Blick auf das Leid, das sich vor 80 Jahren in Europa abspielte und das Erwachen nach einem Traum. Dirigent Constantinos Carydis hält die Spannung im Raum für 30 Sekunden, dann atmet das Konzerthaus auf und bedenkt diesen denkwürdigen Abend, und seine authentischen Hauptdarsteller*innen, mit frenetischem Beifall.

Previous
Previous

Konzerte für Demenzkranke und ein Löffel von Beethoven

Next
Next

Nicht von dieser Welt