Zwischen ästhetischen Bildern und herzzerreißenden Geschichten
Herzzerreißend, relevant und interessant – In the Belly of a Tiger ist der Must-See-Film der diesjährigen Berlinale.
Einmal im Jahr kommen Filmemacher*innen aus der ganzen Welt zusammen, um sich in Berlin die neusten Filme anzuschauen und sich Meinungen zu ihrem Drehbuch, der Kameraführung und der Regie zu machen. Manche Filme genießen großes Lob von den Gästen, andere wiederum müssen sich damit zufriedengeben, dass die Kinosäle halb leer bleiben bei ihren Vorstellungen. Meine Erfahrungen bei der diesjährigen Berlinale waren durchwachsen. Einige Filme hätte ich sicherlich überspringen können, doch einige einzelne hinterließen einen so großen Eindruck bei mir, dass ich kaum darauf warten kann, die Filme noch einmal sichten zu können. Einer dieser Filme war In the belly of a Tiger von dem indischen Regisseur Siddharth Jatla.
Im Kern handelt der Film von einem Mann, welcher Ziegel herstellt, um das Leben seiner Familie in einem indischen Dorf zu finanzieren. Seinem Arbeitgeber sind die finanziellen Probleme und die Schulden der Arbeiter*innen bekannt, weswegen er ihre Not ausnützt, um noch billigere Arbeit zu bekommen. Der Film zeigt den Zerfall der Arbeiter*innen an der anstrengenden Arbeit und der finanziellen Not, aus welcher sie nicht mehr rauszukommen scheinen. Auch die Familien der Arbeiter*innen leiden zunehmend an den Umständen und als dann ein Tiger beginnt, Personen des Dorfes zu attackieren, erkennen einige der Dorfbewohner*innen ihre Chance, der Armut zu entkommen. Der Staat zahlt den Familien der verstorbenen Person nämlich Kompensationen aus, was für einige Familien als einziger Ausweg aus ihrer Lage zu sein scheint.
Der Film ist herzzerreißend und emotional. Im Kinosaal konnte ich die gedrückte Stimmung fast schon auf meinen Schultern spüren. Viel wichtiger ist aber, dass der Film auf einer wahren Geschichte basiert. Als die Berlinale den Film im Delphi-Filmpalast zeigte, hatte ich das Glück, im Anschluss bei einem Q&A mit dem Regisseur dabei zu sein. Dieser berichtete von einem Zeitungsartikel, welchen er vor einigen Jahren gelesen hatte. Der Titel beschrieb ein Dorf, welches Menschen an einen Tiger opferte. Jatlas Interesse für dieses Dorf wurde geweckt und somit zog er für einige Zeit dort hin, um mehr Informationen zu erhalten. Er wollte wissen, wie es dazu kam und welche Lebensumstände die Menschen dort ausharren mussten, um solch eine Entscheidung zu treffen. Als Jatla endlich bereit war, den Film zu drehen, schaffte er es sogar, echte Dorfbewohner*innen für sein Projekt zu faszinieren und somit ist der Film bestückt mit Kompars*innen, welche einen biografischen Bezug zur Thematik haben.
Im Kern ist der Film ein Statement gegen den Kapitalismus. Hätten die Arbeitgeber nicht die finanzielle Notlage der Bewohner*innen ausgenützt, um möglichst billige Arbeit zu bekommen, hätten die Bewohner*innen nicht immer mehr aufgeben und verzichten müssen. Es wäre somit niemals zu der Opferung ihrer Geliebten gekommen, da Geld nicht mehr ein so belastendes Thema in ihrem Haushalt wäre. Der Film behandelt auch die Frage, wie wertvoll die vermeidliche Rettung durch neue Arbeitsstellen wirklich ist. Sollten die Menschen aus dem Dorf wirklich dankbar sein für die Arbeitsstellen, welche sie eigentlich nur ausbeuten? Denn nicht nur schlechte Bezahlungen, sondern auch unmenschliche Verhältnisse zwingen die Arbeiter*innen immer mehr an ihre Grenzen, und so thematisiert der Film auch Fehlgeburten im Rahmen der Überarbeitung.
Aber nicht nur Arbeitgeber*innen werden in diesem Film kritisch betrachtet, sondern auch der Staat. Im Kontext dieser Geschichte bietet der Staat lediglich eine kleine finanzielle Kompensation für die hinterbliebenen Familien der Opfer des Tigers. Diese Kompensationen wandeln nicht nur den Wert eines Menschens in eine Geldsumme um, sondern zusätzlich beschweren sich die Bewohner*innen auch darüber, dass diese Kompensationen stark zeitverzögert ausgezahlt werden. Als Zuschauerin wird mir direkt klar, dass Jatla darauf hinweisen möchte, wie egal der Verlust der Menschen dem Staat zu sein scheint.
Aktion gegen Hunger bietet genauere Zahlen über das Armutsverhältnis in Indien. Laut der Organisation sollen rund 800 Millionen Personen in Indien von der Armut betroffen sein. Bei rund 1,4 Milliarden Personen ist das knapp mehr als die Hälfte der Bevölkerung. Gegenden, welche besonders leiden, sind die wie im Film gezeigten Dörfer, welche fernab von den Städten existieren. Um die finanziellen Probleme noch einmal in eine westliche Perspektive umzuwandeln, berichtet SOS Kinderdörfer weltweit, dass rund 230 Millionen indische Personen von rund 2 Euro täglich überleben müssen. Bedingungen, welche wir uns so in Österreich nicht vorstellen können. Laut N26 liegen die Lebenshaltungskosten einer ledigen Person in Österreich bei rund 1500 Euro im Monat. Teilt man dies durch 30 Tage, so kommt man auf ca. 50 Euro, welche eine österreichische Person täglich für Wohnen, Essen, Mobilität und weitere Kosten ausgibt.
Der Film ist also relevant und vertritt eine starke politische Meinung. Obwohl Jatla es schafft, einen ästhetisch-ansprechenden Film zu erschaffen, mit starken Dialogen und einer interessanten Kameraführung, ist es doch der Plot, welcher einen starken Eindruck bei mir und den Zuschauer*innen hinterlassen hat. Herzzerreißend, relevant und interessant – In the Belly of a Tiger ist der Must-See-Film der diesjährigen Berlinale.