Kafkaeske Welt: Gen Z und die neue Entfremdung

Ein Zufluchtsort in Zeiten der scheinbar undurchdringlichen Realität zwischen Krieg, Informationsflut und Klimawandel: Franz Kafka bietet der jungen Generation mit Texten über Intimität und Entfremdung halt. 

(c) Figure cut out of sketchbook (detail; c. 1901–07) /// Franz Kafka. Courtesy National Library of Israel / Jerusalem

In Bücherläden findet man jenes Regal, in welchem Franz Kafkas Werke stehen, leer auf. Die neue Serie Kafka erschien zuletzt im ORF, und der Film Die Herrlichkeit des Lebens über ihn und seine letzte Lebensgefährtin Dora Diamant steht bereits in den Startlöchern. Derzeit scheint man der einzigartigen Stimme Kafkas auf die Welt und sich selbst an jeder Straßenecke über den Weg zu laufen. Dass dies nicht nur mit dem 100. Todestag des Autoren zusammenhängt, scheint zunächst selbsterklärend. Doch woher kommt der Zuspruch der jungen Generation?

Das Spiel in einer desillusionierten Welt

Lucia Bihlers Inszenierung von Die Verwandlung illustriert im Akademietheater die Bedeutung Kafkas auf allen Ebenen. Wer einmal die berühmte Erzählung gelesen hat, empfindet bereits beim ersten Satz eine tiefe Stimmung der Entfremdung: „Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt“. Jenes Gefühl visuell zu vermitteln, scheint unmöglich. Im Lauf der Zeit verliert der Protagonist nicht nur die Anerkennung seiner Familie und der Gesellschaft, sondern fühlt zunehmend den Verlust seiner eigenen Existenz und Identität, bis er letztendlich verwundet durch seinen Vater den eigenen Tod „in diesem Zustand leeren und friedlichen Nachdenkens“ akzeptiert.

Einzigartig und grotesk zeigt das Theaterstück ein Spiel mit Perspektiven, wobei sich die Zuschauer*innen in Frontalsicht, wie auch in Über-Kopf-Sicht auf das Geschehen wiederfinden. Damit jedoch nicht genug: Auch wird mit der Größe des „Ungezwiefers“ gespielt, indem dieses im Laufe des Geschehens in einer scheinbar geschrumpften Miniatur-Nachbildung seines Zimmers erwacht. Erscheint der Apfel, den Vater Samsa auf seinen verwandelten Sohn wirft, in einer Szene normalgroß, so gewinnt dieser in der nächsten Szene in überdimensionaler Größe an wertvoller Bedeutung. Das Gefühl der Abschottung und Veränderung der eigenen Existenz wird mit dem Spiel der Illusionen sowie dem zunächst widersprüchlich erscheinenden Masken- und Bühnenbild akzentuiert. Der Inszenierung gelingt auf exzeptionelle Art und Weise, den Verlust von Zeit und Raum, sowie die Entfremdung der eigenen Identität bis zum vollkommenen Wertverfall des Protagonisten abzubilden.

(c) Marcella Ruiz Cruz

Gerade dem Theater und der Kulturbühne gelingt es, das Absurde und seine Abgründe - eben das Kafkaeske - darzustellen. Mithilfe eines deformierten Bühnen- und Maskenbild kann dieses die schwer zu begreifende menschliche Psyche abbilden. Anhand entfremdeter Passagen, Ellipsen und Repetitionen entsteht der innere Monolog des Individuums, in dem sich zunächst kein Sinn zu offenbaren scheint. Besonders die Theaterbühne kann, mit Illusionen, Raum und Zeit spielend, eine einprägsame Nähe zum Publikum herstellen. Dieses agiert als Spiegel zum eigenen Unterbewusstsein, in welchem sich auch das Absurde der Psyche wiederfinden lässt: ein Theaterstück mit dem Protagonisten des Unbegreiflichen. Wagt man einen Blick in jenen Spiegel, so lässt sich hinter die Fassade des Alltäglichen Schauspiels und in die tiefen des Unbeschreiblichen blicken.

Es ist, als wäre ich ein Ungeziefer

Im Zeitalter einer zunehmend distanzierten, vernetzten Gesellschaft und der gleichzeitigen Sehnsucht nach Verbundenheit und Nähe scheint die Gen Z eine Symbiose mit Franz Kafka einzugehen. Dieser ermöglicht mit seinen veröffentlichten persönlichen Texten, wie Beispielsweise Briefe an den Vater, eine Zuflucht in Intimität. Mit Kafkas biografischer Nähe zu seinen verletzbaren Figuren, erlaubt er es jungen Menschen, sich in seinen Werken wiederzufinden. So auch beim Ungeziefer Georg Samsa.

Die Metapher des Käfers stellt hierbei nur ein Sinnbild für das Leiden des Protagonisten dar. Seine eingeengte Existenz im Panzer spiegelt das hilflose und verzweifelte Gefangen-sein in einer hoffnungslosen Situationen wieder. Gerade junge Menschen mit psychischen Problemen wie etwa Depressionen finden in Kafkas Werken Hauptfiguren, mit denen sie sich identifizieren können. Dabei fühlen sich viele junge Menschen in schweren Lebenssituationen, vielleicht selbst wie ein ungewolltes Ungeziefer. Ausgeschlossen von der Gesellschaft und der eigenen Familie. Nicht in der Lage das eigene Zimmer, welches sich wie ein Gefängnis anfühlt, zu verlassen. Sich drehend in einem unendlich erscheinenden Gedankenkarussell über den Sinn ihrer Existenz. Die Gen Z fühlt sich regelrecht angezogen vom Kafkaesken. Seine Worte transportieren ein Sentiment des Verstanden-werdens in schweren Zeiten.

Jeder trägt ein wenig Kafka in sich: ein wenig Melancholie und Trauer, ein wenig Hilflosigkeit, ein wenig Entfremdung. Trost in Werken über tiefe Einsamkeit zu finden, scheint grotesk. Doch Kafka schafft es auch nach 100 Jahre noch, zahlreichen jungen Individuen ein Zuhause in einem Gerüst aus Literatur, Briefen und seltsamen Träumen zu schenken.

Generation Melancholie

In einer Welt, die von Pandemien, Inflation, sinnlosen Kriegen und dem Klimawandel geprägt ist, findet sich das junge Individuum in tiefster Unsicherheit wieder. Das Gefühl, in eine bereits determinierte Welt geboren zu sein, in welcher die eigene Existenz ihren Sinn verliert, findet sich immer häufiger in jungen Generationen. Eine scheinbare Hilflosigkeit spiegelt sich auch in Untersuchungen zur mentalen Gesundheit der Gen Z wieder: „Noch nie zuvor gab es so viele Kinder und Jugendliche, die in Bezug auf ihre mentale Gesundheit herausgefordert sind. Die Generation Z leidet stärker als jede andere Jugendgeneration vor ihr unter Schlafstörungen, Kopfschmerzen, depressiven Symptomen und Depressionen“.

Es zeigt sich eine klare Entwicklung: 35 Prozent der befragten Gen Z gab an, im letzten Jahr häufig an an Depressionen oder Angstzuständen zu leiden. Auch lässt sich die instabile Psyche der jungen Generation an genannten Zukunftsängsten (36 Prozent) drastisch erkennen. Die Enttabuisierung dessen hat in der Gen Z längst begonnen, sodass offener als je zuvor mit der eigenen mentalen Gesundheit umgegangen wird. Die Psyche der Jugend scheint fragil, doch gleichzeitig finden sich immer mehr Wege mit dem Umgang jener Zerbrechlichkeit: Kunst, Film, Theater, Literatur. Auf kreative Art und Weise, sowohl im kreieren wie auch im konsumieren, scheinen junge Menschen Halt und Verständnis zu finden. Gerade bei Melancholie und Trauer, wie in jenen Werken des Franz Kafka.

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