Lockenlodernder Chopin
Über den großen Unterschied zwischen Werbeauftritt und dem Real-Life-Appearence und die wunderlichen Fingern vom kanadischen Pianisten Jan Lisiecki - schon wieder ein magischer Konzerthaus-Abend.
1958 wurde in Sowjetrussland mit viel Pomp der erste Tschaikowsky-Wettbewerb ausgetragen. Dass der Gewinner, Van Cliburn, ein Amerikaner war, war mitten im Kalten Krieg unerhört. Der schlaksige Riese nahm die Herzen der Russen im Sturm ein, spielte phänomenal und strahlte eine jugendliche Herzlichkeit aus. An diesen Van Cliburn erinnerte mich Jan Lisiecki, als er vorgestern auf die Konzerthausbühne lief. Auf Konzertaufnahmen und besonders auf Pressefotos wirkt der junge Kanadier ernst und erwachsen, jetzt hatte der lange Kanadier eher die Ausstrahlung eines fröhlichen Teenagers.
Und dann begann er zu spielen und ließ mich Cliburn und meinen ersten Eindruck vergessen. Sein reines Chopin-Programm begann er mutig mit der virtuosen Waterfall-Etude. Er spielte mit einer dominanten rechten Hand, die Läufe in der Linken waren hauchzart. Das waren nicht die Niagarafälle, eher irgendein feiner alpiner Wasserfall. Pianist*innen der alten russischen Schule hätten das markanter gespielt. Vielleicht wird das Ivo Pogorelich im Januar adäquat demonstrieren, er wird auch nur Chopin spielen.
Ein Anschlag zum Dahinschmelzen
Lisiecki ist mit nur 26 Jahren ein grandioser Pianist mit starkem Charakter. Wie er die Nocturne Op. 27/1 spielte, das war wahrlich fesselnd. Sein Touch ist derart weich und trotzdem so sicher: Von solchen Fingern träumen alle Tastentryharder*innen. In seiner Interpretation war diese Nocturne echte Nachtmusik. Verträumt, schattig, sanft.
Sein Anschlag war mit dem von András Schiff verwandt, der am Vorabend auf seinem roten Custom-Böserndorfer ähnlich buttersanft, wenn auch mit einem noch klareren Ton spielte (vielleicht wirkt die unorthodoxe Bösendrorfer-Besaitung tatsächlich?). Der Ton Lisieckis ging leicht in Richtung Volodos. Als ich mich einmal umdrehte, erinnerten mich auch die andachtsvoll zuhörenden Gesichter an die gottesdienstliche Stimmung vom Volodos-Konzert.
Diesen Chopin hätte man einrahmen sollen
In der zweiten Konzerthälfte wurde Lisieckis Klang etwas klarer, als ob er den Konzerthaus-Steinway nun besser kennengelernt hätte. Die berühmte Nocturne Op. 9/1 spielte er mustergültig, diese Interpretation hätte man einrahmen und in irgendein Museum hängen sollen. Zum Schluss wurde es mit der Revolutionsetüde stürmisch. Lisieckis Locken loderten wild, als stehe er selbst auf den Barrikaden. Seine Energieüberschüsse entlud er teilweise, indem er hin und wieder sich beim Vorbeugen etwas vom Klavierhocker erhob. Das wirkte fast wie eine politisch korrekte Demoversion vom Klavierkoitus à la Keith Jarred.
Während die Zugabe ertönte (noch eine Nocturne, aber von Ignaz Jan Pederewski) fiel mir ein, was es für ein Glück es ist für uns alle, diesen so empfindsamen Wunderpianisten in den nächsten Jahrzehnten verfolgen zu dürfen. Ich bin schon jetzt gespannt, wie er mit 40 oder mit 60 spielen wird. Sei es uns vergönnt, das tatsächlich erleben zu dürfen…